Privatisiert und eingestampft!
"Die Geschichte gehört vor allem dem Tätigen und Mächtigen," schrieb schon Friedrich Nietzsche den nachfolgenden Generationen in die Lehrbücher, "dem, der einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag." Wer als Leitfigur historische Dimension verdient, ist in Österreich selten Gegenstand kritischer Debatten. Noch weniger diskutiert wird die Frage, ob die Personalisierung von Geschichte nicht weit reichende Probleme in sich trägt und die notwendige Auseinandersetzung mit Meistererzählungen, die vor allem auch nach der Versöhnung differenter Perspektiven trachten, nicht eigentlich behindert. Und schon gar keine Aufmerksamkeit findet die Frage, wie eigentlich jene Räume beschaffen sein müssen, in denen Geschichtspolitik verhandelt wird.
In Österreich wird an höchster Stelle verfügt, worauf sich die Gesellschaft im Hinblick auf die Grundlagen ihrer Vergangenheit zu verständigen hat. Die Geschichte gehört somit offenkundig jenen, die Nietzsches "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" tatsächlich zu ihrer Machtausübung gelesen haben. Seit Anfang Juni ist Österreich jedenfalls um eine Schmierenposse reicher, die in der Paarung mit der NS-Apologie der Parlamentarier Kampl und Gudenus einen neuen Verelendungsgrad der Geschichtspolitik des Landes markiert.
Was ist geschehen? Am 16. Mai 2005 startete in der Österreichischen Galerie Belvedere die Großausstellung "Das Neue Österreich". Ein Projekt, das ursprünglich niemand so richtig wollte, dann aber aufgrund einer persönlichen Intervention eines privaten Konsortiums um Hannes Androsch doch noch zu einem Vorhaben des nationalen Schulterschlusses empor gehoben werden konnte. In seinem "Komitee Staatsvertragsausstellung 2005 in Wien" versammelte der SP-Finanzmagnat auch den ehemaligen Generalsekretär der Industriellenvereinigung Herbert Krejci sowie Peter Weiser, ehemals Journalist, später Generalsekretär der Wiener Konzerthausgesellschaft und nicht zuletzt auch Energiekrisen-Manager im Dienste von Bundeskanzler Kreisky. Die Stadt Wien verpflichtete sich zur Drittelfinanzierung und entsandte Günter Düriegl, der, nachdem er als glanzloser Direktor des Historischen Museums der Stadt Wien so gut wie abserviert worden war, mit der wissenschaftlichen Leitung der Staatsvertragsschau doch noch eine ehrenvolle Aufgabe übernehmen durfte. Der Anteil der Bundesregierung manifestiert sich nicht zuletzt in der Verankerung der Ausstellung im Belvedere. Gerbert Frodl, der Direktor der Österreichischen Galerie, ist der VP-Kultusministerin Elisabeth Gehrer stets zu Rede, Antwort und Verantwortung verpflichtet. Also auch im vorliegende Falle, da ja "Das Neue Österreich" von breitem öffentlichen Interesse ist - möchte man meinen!
Österreich über alle Gräben hinweg geeint? Alles sollte wie geschmiert über die Bühne gehen, die Dreifaltigkeit Androsch, Krejci, Weiser vor allem die nationale Eintracht mit neuer Sogwirkung versorgen. Doch der Motor begann zu stottern, als im Frühjahr 2005 bekannt wurde, dass Wolfgang Neugebauer bereits im März 2004 (!), also noch lange vor seinem Ausscheiden als Leiter des "Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands", gegenüber den Spitzen der Republik fundamentale Kritik am Ausstellungskonzept geübt hatte: "Eine Jubelausstellung", lässt er in einem Kommentar ein Jahr später auch die Öffentlichkeit wissen (Der Standard, 16. März 2005), "die einseitig nur die Erfolgsstory der Zweiten Republik beinhaltet, kann von mir nicht mitgetragen werden; die Thematisierung der Schattenseiten der positiven Entwicklung Österreichs halte ich für unverzichtbar." Das DÖW verweigerte die Gefolgschaft und musste dafür entsprechend büßen. Eine gemeinsame Linie sei deshalb nicht zustande gekommen, versuchte Peter Weiser in Folge vom strengen Urteil des Historikers abzulenken, weil Neugebauer für eine Mitarbeit angeblich ein Honorar in der Höhe von 350.000 Euro beanspruchte. Ein haarsträubender Versuch der persönlichen und institutionellen Diskreditierung, der nicht nur jeder Grundlage entbehrte, sondern als Vorbote bereits zu diesem Zeitpunkt ein Follow Up erwarten ließ.
Die Fortsetzung folgte schon drei Monate später. Trümmer.Träume.Topfenstrudel ist der Titel einer Vermittlungsbroschüre, die im Rahmen der Staatsvertragsausstellung eigens für Jugendliche geschrieben wurde. Die Autorinnen, darunter auch Kunstvermittlerinnen der Galerie Belvedere, schufen mit der Publikation einen Raum der Diskurserweiterung, der ihnen dringend geboten schien. "Wir sind", so richteten sie sich schon im Vorwort an die jungen Besucherinnen und Besucher, "bei der Beschäftigung mit dem Thema auf viele Fragen und auch Probleme gestoßen, mit denen wir auch dich im Laufe dieses Ausstellungsrundganges konfrontieren wollen. Vieles aus der Vergangenheit erschien uns auch in der Gegenwart noch unverändert aktuell." Diese Einsicht sollte den vier Kunst- und Zeithistorikerinnen in eigener Anschauung nicht lange vorenthalten bleiben.
Kaum war das kleine Buch in einer Auflage von 10.000 Stück gedruckt, durchaus aufwändig gestaltet, aber dennoch entlang des Geschmacks von Youngsters ausgerichtet, wurde es auch schon wieder eingestampft. Der Rest der Überlieferung ist ein erbärmliches Sittenbild der österreichischen Geschichtspolitik, das auch über das kulturpolitische System Auskunft gibt. Es herrscht jedenfalls seither verordnetes Stillschweigen, Ahnungslosigkeit gesellt sich zur Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen. Soviel aber lässt sich in Erfahrung bringen: "Der Auftraggeber hat es bezahlt", erklärte Belevedere-Direktor Frodl gegenüber der Austria Presse Agentur, "der Auftraggeber wollte, dass so verfahren wird, wir haben uns daran gehalten". Zum besseren Verständnis: Der Leiter einer öffentlichen Einrichtung, dessen von Bund und Stadt Wien zu zwei Dritteln finanzierte Wechselausstellung zusätzlich zum offiziellen Katalog auch eine Vermittlungsbroschüre für Jugendliche umfasst, spricht hier von einer Auftragsarbeit. Die Gesamtkosten des Großprojekts belaufen sich immerhin auf 2,1 Millionen Euro. Weil aber der Privatier Hannes Androsch, dessen Drittelbeteiligung an der Finanzierung erst nach Rechnungsabschluss zu überprüfen sein wird, keinen Gefallen an dem jugendhaften Vermittlungsinstrument finden wollte, ließ Gerbert Frodl das Druckwerk kurzerhand vernichten.
Über die Beweggründe sind nur Bruchstücke bekannt. Androsch verwies gegenüber der APA auf ein "didaktisches und pädagogisches Missverständnis", vor allem sei in Trümmer.Träume.Topfenstrudel die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs "sachunkundig und lieblos" abgehandelt. Zumal vereinzelte Exemplare den Weg an die Öffentlichkeit finden konnten (u.a. an den Autor dieses Beitrags), legt die Lektüre eher den Verdacht nahe, dass die in besagtem Themenbereich angeführten kritischen Bemerkungen zur neoliberalen Wirtschaftspolitik dem Zensurakt einen nicht unbeträchtlichen Ausschlag gegeben haben. Unter den Internet-Links finden sich in dieser Rubrik jedenfalls keine Hinweise zur Wirtschaftskammer oder Industriellenvereinigung, dafür aber zu ATTAC, Armutskonferenz und dem Sozialstaatsvolksbegehren.
"Ich hätte ohne weiteres diese Broschüre stehen lassen", musste von Frodl, der die Druckerlaubnis erteilt hatte, letztlich kleinlaut eingestanden werden. Genau das tat er aber nicht, obgleich die Österreichische Galerie Belvedere als Herausgeberin die alleinige Entscheidungskompetenz besitzt. Die Einwände des Personenkomitees gegen das Begleitheft, zeigte sich der Direktor nach plötzlicher Kehrtwende überzeugt, seien "keinerlei Intervention", sondern "wohlbegründeter Ausdruck der Sorge um falsche Vermittlung". Offensichtlich hatte sich in der Zwischenzeit die dafür zuständige Bundesministerin Elisabeth Gehrer mit allem Nachdruck Gehör verschafft.
Gehört die Geschichte, wie es uns Nietzsche lehrt, nun dem Tätigen und Mächtigen? Oder doch eher "dem, der unter seinen Genossen und in der Gegenwart" keinen Trost zu finden weiß? Die Ebenen des persönlichen, wissenschaftlichen und politischen Umgangs mit der Vergangenheit sind nicht voneinander fernzuhalten. Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund individueller und kollektiver Erinnerungen und Prägungen ist es unausweichlich, dass verschiedene Geschichtsdeutungen miteinander konkurrieren. Nur so entsteht der gesellschaftliche Raum einer geschichtspolitischen Debatte. Und hier befindet sich die Vielzahl von Instanzen und Institutionen, die im Spannungsfeld von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur verortet sind, in einem steten Konflikt. Dessen Brennpunkte sind vor allem dort auszumachen, wo die politische Dimension von Begriffen wie historische Schuld, Wiedergutmachung, Restitution, Erinnerung und Verantwortung verhandelt wird. Das so genannte "Gedankenjahr" ist mit der großen Anzahl an Regierungsfeierlichkeiten eine geradezu paradigmatische Herausforderung, eine breite öffentliche Diskussion zur Geschichtspolitik und ihren Vorbedingungen zu etablieren.
Doch in Österreich wird privatisiert und eingestampft. "Die Investoren haben das Sagen, schließlich haben sie auch das Geld", schreibt Armin Thurnher in einem aktuellen Leitartikel. "Das ist schon ein bisschen mehr als "weniger Staat, mehr privat", das ist die öffentliche Einübung in den hohlen Staat, der in neufeudaler Artigkeit dirigiert wird." (Falter, 16. Juni 2005) Mit der Schmierenposse rund um die Staatsvertragsausstellung im Belvedere hat nun auch die Kulturpolitik einen neuen Sündenfall. Mit weit reichenden Folgen, auf die wiederum am besten aus dem Vorwort der inkriminierten Jugendbroschüre geschlossen werden kann: "Ist dir eigentlich bewusst", heißt es da mit dem vermeintlichen Wohlwollen der Belehrung, "dass auch du einmal Teil der Geschichte sein wirst, über die nachkommende Generationen etwas lernen werden? Und was sie über unsere Gegenwart als ihre Vergangenheit erfahren, kannst du aktiv mitgestalten und beeinflussen." Das Problem dabei: Wenn der Privatisierung der Geschichtspolitik nicht schleunigst Einhalt geboten wird, wenn die historische Kontroverse nicht wieder öffentlichen Raum erschließt, dann werden den Jungen von Heute in Zukunft auch keine Zugänge zu Artikulationskanälen zur Verfügung stehen.
Martin Wassermair ist Historiker, Geschäftsführer der Netzkultur-Plattform Netbase und Sprecher der IG Kultur Österreich
Aus: Kulturrisse 0305, Juli 2005