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Die verschwundene Tätergesellschaft

Aus Anlass der Enthüllung eines „Monuments für die Niederlage“, das am Abend des 8. April 2005 bereits wieder Geschichte sein wird. Von Alexander Pollak

Bei all der Kritik, die an der Gestaltung des heurigen Gedenkjahres und des Umgangs der Politik mit der NS-Vergangenheit geübt wurde, ist eine kontroversielle Frage bisher unbehandelt geblieben: Hat es nach 1945 überhaupt eine andere Möglichkeit gegeben, als die Nationalsozialisten wieder voll in die Gesellschaft zu integrieren und zugleich einen Schleier des Vergessens über die Rolle vieler Österreicher im NS-System auszubreiten? Wäre es nicht ein fataler Fehler gewesen, durch rigide Gesetze einen Teil der Bevölkerung von politischer Teilnahme und beruflicher Karriere auszugrenzen und damit eine rechtlich und sozial ins Abseits gedrängte Parallelgesellschaft vormals aktiver Nationalsozialisten zu schaffen? Und vor allem: Wo hätte man die Grenze ziehen sollen zwischen der abzusondernden Gruppe der NS-Aktivisten und der großen Masse an NS-Sympathisanten, die es in Österreich gab?

Tatsache ist, dass mit dem Sieg der Alliierten im Jahr 1945 der Versuch gestartet wurde, eine Entnazifizierung der österreichischen Gesellschaft vorzunehmen. Die Mitglieder nazistischer Organisation wurden rechtlich und sozial sanktioniert und auch von politischen Prozessen ausgeschlossen. Darüber hinaus wurden so genannte Volksgerichtshöfe geschaffen, die jene Menschen verurteilen sollten, die an NS-Verbrechen beteiligt waren.

Doch kaum eineinhalb Jahre nach Kriegsende wurde ein gänzlich anderer Weg eingeschlagen. Vor dem Hintergrund des einsetzenden Kalten Krieges nahm der Entnazifizierungsversuch ein jähes Ende. Insbesondere die westlichen Alliierten ließen der österreichischen Regierung immer mehr freie Hand in Sachen Aufweichung und Abschaffung der Entnazifizierungsgesetze. Von den 537.000 registrierten NSDAP-Mitgliedern galten schließlich nur noch 42.000 als „belastet“ und in der Folge kam es zu weitreichenden Amnestierungsmaßnahmen für so genannte „Minderbelastete“. Die Nationalratswahlen 1949 waren bereits von einem Buhlen aller Parteien um die Stimmen der ehemaligen Nationalsozialisten geprägt.

Je mehr die neugegründete Zweite Republik in Eigenverantwortung entlassen wurde, desto deutlicher zeichnete sich ab, dass es gerade wegen der großen Masse an Menschen, die sich vor 1945 mit dem NS-Staat identifizierten, keinen demokratisch legitimierten Ausschluss der aktiven Nationalsozialisten geben konnte. Die längerfristige Aufrechterhaltung einer rigiden Entnazifizierungspolitik wäre nur durch äußere Repression von Seiten der Alliierten oder in einem von NS-Opfern autoritär geführten nichtdemokratischen Österreich realisierbar gewesen.

Der Abzug der Alliierten 1955 wurde schließlich dazu genutzt, noch im gleichen Jahr die Volksgerichtshöfe abzuschaffen und die Aburteilung der NS-Verbrechen den ordentlichen Geschworenengerichten zu überlassen. Die Folge waren Freisprüche am laufenden Band und massenhaft Begnadigungen. 1957 erließ die österreichische Regierung eine Generalamnestie für die ehemaligen Nationalsozialisten.

Nicht nur die Beteiligung zahlreicher Österreicher an den NS-Verbrechen, sondern gerade auch die Art und Weise, wie in der österreichischen Demokratie mit der NS-Vergangenheit umgegangen wurde, macht deutlich, dass auf breite Teile der österreichischen Gesellschaft jener Begriff zutreffend war, der fast ausschließlich für Deutschland gebraucht wurde, jener der Tätergesellschaft. Nur ein kleiner Teil der Österreicher empfand den Fall des NS-Regimes als Sieg, der Großteil sah sich nicht als Profiteur, sondern als direktes oder indirektes Opfer der einsetzenden Entnazifizierungsmaßnahmen.

Dennoch hätte es auch im Rahmen einer österreichischen Demokratie - mit den vormaligen Sympathisanten und Aktivisten des NS-Systems als dominante Gruppe innerhalb des Wahlvolks - die Möglichkeit eines anderen Umgangs mit der NS-Vergangenheit gegeben. Nämlich dann, wenn ein signifikanter Anteil der Kriegsgeneration bereit gewesen wäre, ihre Unterstützung des NS-Regimes im nachhinein vorbehaltlos als Fehler anzusehen und die NS-Ideologie als eine bereits in ihren antisemitischen, nationalistischen, expansionistischen, biologistischen und gewalttätigen Grundzügen unmoralische und verbrecherische Ideologie einzustufen.

Das wäre die nötige Voraussetzung für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Anteil an diesem verbrecherischen System gewesen. Doch diese Bereitschaft war in Österreich von Seiten der überwiegenden Mehrheit der Kriegsgeneration nicht gegeben, mit der Konsequenz, dass es schlussendlich weder einen repressiven Reinigungsprozess von außen noch einen demokratisch-reflexiven von innen gegeben hat.

Es entstand die bis heute gültige paradoxe Situation, dass die Tätergesellschaft unter den Teppich gekehrt wurde und gerade deswegen Tätergesellschaft bleiben konnte und musste. Die Politik der Verleugnung der Nazifizierung Österreichs hatte auch deshalb so nachhaltige Folgen, weil von den nach 1945 Geborenen viele die diskussions- und reflexionsabwehrenden Verhaltensmuster der Kriegsgeneration übernahmen und ihr positives Selbstbild durch eine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen gefährdet sahen.

Wussten Sie, dass noch 1996 bei einer Befragung knapp die Hälfte der Österreicher dem Nationalsozialismus auch gute Seiten abgewinnen konnte? Der deutsche Historiker Götz Aly hat gerade erst kürzlich wieder dargelegt, wie die vom NS-Regime durchgeführten Enteignungen und der darauffolgende Raubmord dazu genutzt wurden, um den Wohlstand in den arischen Sphären des Dritten Reiches zu sichern. Ist denjenigen, die heute noch an die „guten Seiten“ des Nationalsozialismus glauben, denn nicht bewusst, dass die kurzfristigen materiellen Verbesserungen unmittelbar auf Verbrechen begründet waren? Sollten wir uns nicht vielleicht doch etwas intensiver mit den Mängeln im Resozialisierungsprozess Österreichs nach 1945 und deren bis in die Gegenwart reichenden Auswirkungen beschäftigen?

Genau dieser Beschäftigung ist das heute gegenüber dem Wiener Landesgericht aufgestellte „Monument für die Niederlage“ gewidmet, das für lediglich einen Tag an jene kurze Phase in der Geschichte der Zweiten Republik erinnern soll, in der der Versuch einer Entnazifizierung unternommen wurde. Ein Versuch, der heute Geschichte ist, während die Folgen der Nazifizierung Österreich bis heute begleiten.

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60 Jahre Befreiung, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft - im so genannten Jubiläumsjahr 2005 erlebt Österreich einen neuerlichen Schub an Geschichtsverzerrung und Chauvinismus, an Opfermythen und diversen rot-weiß-roten Identitätskonstruktionen.
Eine Aktionsplattform tritt gegen die national-konservative Jubelmaschine an
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