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Home » Texte » Bombenstimmung » Gedenken und Mahnen. NS-Herrschaft, Erinnerungskulturen und Gedächtnislandschaften nach 1945

Gedenken und Mahnen. NS-Herrschaft, Erinnerungskulturen und Gedächtnislandschaften nach 1945

Von Claudia Kuretsidis-Haider

"Sich mit Denkmälern auseinander zu setzen, bedeutet, die Frage nach der Erinnerung zu stellen und sich bewusst zu werden, welchen Stellenwert vergangene Ereignisse und Personen in der Gegenwart haben-und welchen sie haben sollten. Es bedeutet auch, danach zu fragen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln ein Denkmal an das Vergangene erinnert." (Adam 1993, S. 9)

Der Philosoph Avishai Margalit diskutiert in seiner Schrift "Ethik der Erinnerung" den Sinn gesellschaftlicher Erinnerung und stellt die Frage, ob eine Gesellschaft verpflichtet ist, sich an vergangene Ereignisse und Personen zu erinnern, und wenn ja, in welcher Art und Weise (vgl. Margalit 2000). Für ihn zeigt sich dabei ein Zusammenhang mit den moralischen Grundlagen einer Gesellschaft. Die Erinnerungskultur bringt demnach zum Ausdruck, welche ethischen Leitvorstellungen eine Gemeinschaft, eine Nation als verbindlich erachtet. Oder, wie Ute Daniel feststellt: "Die Art und Weise, in der Gruppen oder Gesellschaften mit ihren Vergangenheiten umgehen, macht zweifellos einen wesentlichen Teil ihrer >Kultur< aus" (Daniel 2001, S. 343).

Wenn man im Sinne eines weiten Kulturbegriffs diese als "ein Ensemble von Elementen mittels derer Individuen in einer Gesellschaft miteinander kommunizieren" (vgl. Akademie der Wissenschaften) begreift, so sind gerade Erinnerungszeichen ein Indikator, an dem eine Gesellschaft sichtbar wird und in Kommunikation tritt: Wer initiiert ein Erinnerungszeichen? Wo wird es angebracht bzw. aufgestellt? Wie präsent ist dies einer breiteren Öffentlichkeit? Wie präsent ist es in den Medien, in welchen Medien? Für welche Gruppe ist es von besonderem Interesse (Verein, privat, Gemeinde, Land, Region, transnational usw.)? Wie wird es in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Kultur als sinnstiftendes Ensemble weist eine identitätsstiftende Funktion auf, die durch kollektive Erinnerung erkennbar wird. In den Gedächtnisorten lagern Codes bzw. Elemente, die durch Erinnerung aktualisiert werden, wodurch sie zur Sinnstiftung bzw. Orientierung beitragen. Darin sind die Werte einer Gesellschaft ablesbar, in der sowohl positive als auch negative Gedächtnisorte verortet werden können (vgl. Assmann 1996, S. 23). So stellt beispielsweise der Holocaust im metaphorischen Sinne eine Art negativen Gedächtnisort dar.

Erinnerungszeichen-im Gedenken an den Widerstand gesetzt - sind auf der anderen Seite positive Gedächtnisorte, die für bestimmte Werte im Kampf gegen Diktatur und Terror stehen.

Denkmäler sind bedeutungserzeugend und innerhalb eines kulturellen Kontextes Bewusstseins? und Identitätsstiftend. Bei jeder neuen Denkmalsetzung, Umbenennung eines Straßennamens oder Platzes oder auch bei einer Gedenkfeier wird das kollektive Gedächtnis angesprochen, seine Inhalte inszeniert und mittels Erinnerung aktualisiert. Denkmäler sind Speicher des Gedächtnisses, die im Spannungsfeld Gesellschaft – Kultur-Identität stehen. Sie sind weiters instrumentalisiertes Gedächtnis mit inhärenten oft unsichtbaren-der Auslegung bedürfenden-Bedeutungen. In Gedächtnisorten lassen sich gesellschaftliche Erinnerungsprozesse rekonstruieren, wobei die vielfältigen Ausdrucksmittel ihrer Symbolsprache (Präsenz im öffentlichen Raum, Gestaltung, Textierung) – den Bezug der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sichtbar machen (vgl. Straubinger et al. 2003).

Denkmäler stellen für den Innsbrucker Politologen Anton Pelinka politische Symbole dar, die politischen Interessen folgen und damit Aussagen treffen über die Intentionen des herrschenden Geistes in einem politischen System (vgl. Pelinka 1993, S. 9).

Im Prozess von Identitätsausbildung greifen kollektive Identitäten auf diese Orte zurück, deren Inhalte dabei in einer stetigen aktiven Erinnerung zu Identifikatoren (Symbole) des reflektierten Bewusstseins werden.

Die Denkmalkultur in Österreich - fokussiert auf die NS-Zeit und den Umgang der österreichischen Gesellschaft nach 1945 damit - war nach 1945 ein "Spiegel der politischen Verhältnisse" (Seiter 1995, S. 691). Eine umfassende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit erfolgte vor allem deswegen nicht, da das offizielle Österreich sich unter Berufung auf die Moskauer Deklaration als erstes Opfer des Nationalsozialismus (vgl. Uhl 2001, S. 19 ff.) verstand. Durch diese Argumentationsstrategie gerieten die eigentlichen Opfer der NS-Herrschaft sehr rasch in Vergessenheit (Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, Homosexuelle, geistig und körperlich Behinderte; religiöse [ BibelforscherInnen ], soziale sowie politische Randgruppen).

Die "blinden Flecken" und "Leerstellen" des "österreichischen Gedächtnisses" (Heidemarie Uhl), der "spezifisch österreichischen Kultur des Erinnerns und Vergessens" der NS-Herrschaft in der Zweiten Republik (Ziegler/Kannonier), lassen sich insbesondere an der zeitgeschichtlichen Denkmallandschaft ablesen: Den Opfern des NS-Regimes blieb die Anerkennung und damit die Anteilnahme an ihrem Schicksal – eine zentrale Kategorie der "Ethik der Erinnerung" (vgl. Margalit 2000, S. 21 ff.) – vielfach versagt (Heidemarie Uhl).

Heidemarie Uhl hat in der zusammen mit Stefan Riesenfellner vorgelegten Pionierarbeit “Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur” über “Denkmäler zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs in Graz und in der Steiermark” auf der Grundlage empirischer Untersuchungen von Erinnerungszeichen eine Analyse der österreichischen Gedenkkultur der 2. Republik (vgl. Uhl 1994) anhand eines Phasenmodells erstellt (vgl. Uhl 1996, 1997, 1998, 1999).

Demnach war die erste Phase des Gedenkens in der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt durch die Errichtung von Gedenkstätten an den Massengräbern von Opfern der NS-Herrschaft, Grabanlagen und Denkmälern der alliierten Armeen (für die im Zuge der Befreiung Österreichs gefallenen Soldaten) sowie Widerstandsdenkmälern. Insbesondere der Freiheitskampf als Grundlage des unabhängigen, demokratischen Österreich wurde in Denkmalerrichtungen für die Opfer des Widerstandes, in Gedenkfeiern und politischen Erklärungen der drei Gründungsparteien der 2. Republik ÖVP, SPÖ und KPÖ gewürdigt. Es wurde die Ausstellung "Niemals vergessen" in Wien im Wiener Künstlerhaus und in Innsbruck gezeigt, und es gab am 1. April 1948 eine "Pilgerfahrt" in das ehemalige KZ Dachau (vgl. Neues Österreich, 2. 4. 1948).

Der antifaschistische Konsens erwies sich allerdings rasch als brüchig. Von den politischen Parteien identifizierte sich die KPÖ am weitest gehenden mit dem Widerstandskampf. Der Antikommunismus des Kalten Krieges, damit verbunden die Ausgrenzung der KPÖ, und die Reintegration der ehemaligen NationalsozialistInnen in die österreichische Gesellschaft führten zu einer Distanzierung vom Widerstand. Diese politische Neuorientierung zeigte sich auch in einem Wandel der Denkmallandschaft. Widerstandsgedenken war nur mehr den Opferverbänden, der KPÖ und Teilen der SPÖ zugeordnet, das Bedürfnis der Legitimation des neuen Österreich durch Berufung auf den Widerstand wurde ein immer geringeres Anliegen. Gedenken an die Opfer des NS-Regimes, die außerhalb der im Opferfürsorgegesetz 1945 definierten Gruppe der "Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich" standen, wurde überwiegend in den "Erinnerungsgemeinschaften" (Heidemarie Uhl) der Opferverbände bzw. der Israelitischen Kultusgemeinden beschränkt. Aber auch die politisch Verfolgten selbst fanden vielfach keine entsprechende Anerkennung. Denkmalprojekte für den Widerstand stießen auf Ablehnung und konnten nicht oder erst nach heftigen öffentlichen Debatten durchgesetzt werden (etwa das "Internationale Mahnmal" über den Gräbern von NS-Opfern am Grazer Zentralfriedhof 1963) (vgl. Uhl 2000, S. 211 ff.).

Während es zwischen der SPÖ und KPÖ immer wieder zu Auseinandersetzungen darüber kam, "Wem der Widerstand gehörte", zog sich die ÖVP bald fast vollständig aus dieser Erinnerungskultur zurück. Der Opferverband der ÖVP beschränkte sich v. a. auf Formen des Gedenkens in Kirchenräumen (vgl. DÖW 1998, S. 50 f. und 193). In der sozialdemokratischen Gedenktradition wurde der Februar 1934 in das Zentrum des Gedenkens gerückt. Dass die KPÖ nunmehr die einzige politische Kraft war, die die Erinnerung an den österreichischen Freiheitskampf aufrecht erhielt, wurde ihr als politische Propaganda ausgelegt und trug zur Delegitimierung des Widerstandes bei.

Vielfach bis heute prägend für die Erinnerungskultur und die Denkmallandschaft in weiten Teilen Österreichs ist seit Beginn der 1950er Jahre das Gefallenengedenken und die damit verbundenen Rituale und Jahrestage. Es entwickelte sich damit eine von praktisch allen gesellschaftlichen Gruppen unterstützte Gedächtniskultur - quasi als "Antithese zum Widerstandsgedenken" (Uhl 1998, S. 110), die vor allem auf regionaler Ebene identitätsstiftend und geschichtsbildprägend wurde (vgl. Uhl 2000a; Giller et al. 1992). Die Kategorie der Gefallenendenkmäler fungierte außerhalb Wiens gewissermaßen als "Norm kollektiven Erinnerns" (Uhl 1999, S. 54). Im Laufe der Zeit wurde in fast jeder österreichischen Gemeinde ein Kriegerdenkmal errichtet bzw. jenes des 1. Weltkrieges erweitert, eine Tendenz, die sich nach Abschluss des Staatsvertrages noch verstärkte. Träger dieser Gedenkkultur war der Kameradschaftsbund, Widerstandsgedenken war eine Sache der “Kommunisten”.

WiderstandskämpferInnen wurden in die Nähe von VerräterInnen gerückt, die Legitimität des Widerstandes nachhaltig in Frage gestellt, während die Pflichterfüllung der Wehrmachtssoldaten zur "Norm ehrenvollen Handelns" (ebd.) wurde. Diese Situation verweist auf den sozialen Rahmen jeder Erinnerung, wie auch Jan Assmann betonte: "Wenn ein Mensch-und eine Gesellschaft-nur das zu erinnern imstande ist, was als Vergangenheit innerhalb des Bezugsrahmens einer jeweiligen Gesellschaft rekonstruierbar ist, dann wird genau das vergessen, was in einer solchen Gegenwart keinen Bezugsrahmen mehr hat" (Assmann 1991, S. 347).

Die Kriegerdenkmäler dieser Zeit sind allerdings nicht nur Erinnerungszeichen für die Gefallenen, sondern auch ein öffentliches Bekenntnis zu den Soldaten und eine Rehabilitierung der Kriegsteilnehmer-insbesondere auch der Überlebenden. Die Soldaten wurden nun nicht mehr als Opfer des Krieges, sondern als "Helden der Pflichterfüllung und der Tapferkeit" dargestellt. Die Durchsetzung repräsentativer Denkmäler bewies, dass die ehemaligen Wehrmachtssoldaten nicht nur rehabilitiert waren, sondern auch die Hegemonie in der Geschichtsinterpretation einnahmen. "Dennoch erschöpft sich die integrative Wirkung des Gefallenengedenkens nicht in der Forderung nach Rehabilitierung auf der einen und wahltaktischen Überlegungen auf der anderen Seite, sie entspricht auch dem konsensbetonten politischen Klima der Nachkriegsjahre und dem weitverbreiteten Bedürfnis nach Versöhnung und Überwindung jener Gegensätze der NS-Vergangenheit, die noch lange nach Kriegsende weiterwirkten. Die Erinnerungswelt der Kriegerdenkmäler kann als Beitrag zum oft geforderten >Schlussstrich< unter die Gegensätze der NS-Vergangenheit gesehen werden, denn sie war in erster Linie davon bestimmt, kontroversielle Themen der Vergangenheit auszublenden und in einem integrativen, >von Harmoniestreben und positiver Sinngebung geprägten< Geschichtsbild aufgehen zu lassen" (Uhl 1994, S. 150 f.).

Der Grund, weshalb die österreichische Denkmallandschaft in solch einem Ausmaß von der Gefallenengedenkkultur geprägt wurde, liegt nach Anton Pelinka an einem "nahezu beliebigen Pluralismus [...] gegenüber jeder Form politischer Symbolik" (Pelinka 1993, S. 17) und damit verbunden an einer Laissez-faire Geschichtspolitik. Dieser Einaschätzung hält Heidemarie Uhl entgegen, dass diese Form der Denkmalkultur gar nicht im Widerspruch zur Geschichtsauffassung in Österreich nach 1945 steht, sondern das direkte Ergebnis ihrer widersprüchlichen Geschichtspolitik ist, wobei politische Interessen zu den bestimmenden Faktoren des spezifisch österreichischen Umgangs mit der Vergangenheit zählten. Dass damit die Jahre der NS-Herrschaft auf das Kriegsgeschehen reduziert und die Verbrechen des NS-Regimes – gerade auf regionaler bzw. lokaler Ebene – ausgeblendet wurden, sollte erst im Gefolge der Waldheim-Debatte kritisch diskutiert werden (vgl. Gärtner et al. 1991, S. 194 ff.; Dachs 1991).

Nach dem Abschluss des Staatsvertrages setzten sich die bereits erwähnten Tendenzen der "Renazifizierung" (Hacker 1966, S. 9) weiter fort. Zu den diesbezüglich bedenklichen Erscheinungen zählten laut Heidemarie Uhl etwa der deutschnationale Aufmarsch bei der Schiller-Feier im Jahr 1959, Konflikte um Gedenkstätten für NS-Opfer, etwa in Innsbruck um die "Entschärfung" einer Gedenktafel für den katholisch-konservativen Widerstandskämpfer Franz Mair 1955 und im niederösterreichischen Wallfahrtsort Maria Langegg um eine Gedenktafel für im KZ ermordete Priester im Jahr 1963.

Ein politischer Wandel zeichnete sich Mitte der 60er Jahre ab-allerdings nur in beschränktem Ausmaß und vor allem in der Bundeshauptstadt Wien. Dieser zeigte sich beispielsweise in den öffentlichen Reaktionen auf die Affäre Borodajkewycz und des Totschlags des ehemaligen-kommunistischen-Widerstandskämpfers Ernst Kirchweger im Zuge einer Gegendemonstration. In den nachfolgenden Jahren wurden seitens des offiziellen Österreich Erinnerungszeichen gesetzt, die dem Dominieren des Geschichtsbildes der Veteranenverbände ein anderes Geschichtsverständnis entgegensetzen sollten. So wurde mit der Einrichtung eines Weiheraums (zunächst befand sich hier nur eine Gedenktafel; vgl. DÖW 1998, S. 48) für den österreichischen Freiheitskampf im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg (das erste staatliche, von der Republik Österreich errichtete Widerstandsdenkmal) "den politischen Opfern des NS-Regimes erstmals die gleiche offizielle Ehrung zuteil wie den gefallenen Wehrmachtssoldaten" (Uhl 1998, S. 113). In der breiten Öffentlichkeit-vor allem auch außerhalb Wiens-wurde aber dieser Wandel kaum nachvollzogen. In der österreichischen Historiografie existierten ab nun zwei getrennte Gedächtniskulturen nebeneinander, das Gedenken an den Freiheitskampf und das Gedenken an die Gefallenen, die-laut Heidemarie Uhl-das öffentliche Gedächtnis bis heute strukturieren. In den Erzählsträngen der politischen "Nachkriegsmythen" (Tony Judt) und damit auch in den nationalen Gedächtniskulturen waren die Verbrechen des NS-Regimes ausgeblendet worden. Die "eigene" Bevölkerung zeigte sich ausschließlich als unterdrücktes Opfer oder aber als heroische WiderstandskämpferIn, frei von Schuld und Verantwortung, die allein auf die deutschen Machthaber projiziert wurde. Fragen der Schuld und Verantwortung wurden damit aus der politischen Kultur der Zweiten Republik externalisiert (vgl. Lepsius 1989, S. 247 ff.).

Daneben war aber die öffentliche Erinnerungskultur in Österreich stark geprägt von der Ausblendung jener, die in der NS-Zeit rassenideologisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen zum Opfer gefallen sind, darüber hinaus gehend aber auch nach 1945 mit Formen von Diskriminierung konfrontiert waren, wie Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"aktion, Homosexuelle, so genannte "Asoziale". Aktivitäten zur Erinnerung an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus blieben nach dem Krieg fast ausschließlich jüdischen Initiativen überlassen (das Gedenken an die ermordeten Jüdinnen und Juden zeigte nur marginale öffentliche Präsenz-vorwiegend auf Friedhöfen -, gestiftet in den meisten Fällen von der Israelitischen Kultusgemeinde). Der Grund liegt auf der Hand: Die Denkmalsetzung für jüdische Opfer passte nicht in das österreichische Selbstbildnis, selbst Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Die damit verbundene zwangsläufige Erinnerung an die in Österreich verübten nationalsozialistischen Verbrechen wurde als störend empfunden. Nach wie vor vorhandene antisemitische Vorurteile und Einstellungen spielten ebenfalls eine Rolle (vgl. Seiler 1997, S. 282f.). Weitgehend ohne Berücksichtigung blieben nicht-österreichische Opfergruppen, für die überhaupt keine "Erinnerungsgemeinschaften" bestanden und deren Grabstätten weitgehend der staatliche Obsorge oblag (KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Sklaven- und ZwangsarbeiterInnen, Opfer von Todesmärschen; vgl. Bundesgesetze 1948).

In den 1980er Jahren zeigten sich neue Tendenzen der Erinnerungskultur, die sich für Heidemarie Uhl bereits in deren Inkubationsphase, der SPÖ-Alleinregierung in den 70er Jahren, abzeichneten-vor allem durch Initiativen von Gruppierungen abseits des Kameradschaftsbundes oder der Verbände der politisch Verfolgten (vgl. Uhl in: DÖW 1998, S. 9). Der Paradigmenwechsel bei der Betrachtung der österreichischen NS-Vergangenheit und die durch die Waldheim-Debatte 1986 ausgelöste Erosion der Opferthese (Heidemarie Uhl) sowie das Bekenntnis des offiziellen Österreich zur "Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben" (Bundeskanzler Franz Vranitzky vor dem österreichischen Nationalrat am 8. Juli 1991; vgl. Botz et al. 1994, S. 575), hat zahlreiche Initiativen einer neuen Erinnerungskultur motiviert.

Dieser Perspektivenwechsel zeigt sich hauptsächlich bei Denkmalprojekten, die in der Gedächtnistheorie als besonders aussagekräftige Repräsentationen des kollektiven Gedächtnisses betrachtet werden (vgl. Young 1997), wie beispielsweise das "Mahnmal gegen Krieg und Faschismus" am Albertinaplatz und das Holocaust-Denkmal am Judenplatz. Diese sind - wie Heidemarie Uhl feststellt - auch international wahrgenommen Zeichensetzungen einer Neuorientierung des österreichischen Gedächtnisses und des Abschieds von der Verdrängungsstrategie der Opfertheorie. Die Errichtung von Denkmälern, Gedenktafeln und anderen Erinnerungszeichen (Straßennamen etc.) in kleineren Kommunen, getragen von Jugendgruppen, Schulen, Vereinen, privaten Initiativen, verweist darauf, dass ein Interesse an einem ehrenden Angedenken für jene Opfergruppen, denen bislang die Anerkennung vielfach versagt blieb, nicht allein auf der Ebene des offiziellen Österreich, sondern in breiteren Bevölkerungskreisen besteht.

Als einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis - in Form eines papierenen und virtuellen Denkmals führt das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, der "Verein zur Erforschung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und ihrer Aufarbeitung" sowie die Akademie der Wissenschaften seit längerer Zeit unter der Leitung von Heidemarie Uhl das wissenschaftliche Dokumentationsprojekt "Gedenken und Mahnen. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung" durch, das sich zum Ziel gesetzt hat, die spezifisch österreichische Erinnerungskultur für die Opfer des NS-Regimes bzw. deren Transformationen in der Zweiten Republik – von der Ausblendung nach 1945 im Rahmen der offiziellen Opferthese bis zur Neuorientierung des österreichischen Gedächtnisses unter dem Vorzeichen der Mitverantwortungsthese zu untersuchen. Bis jetzt ist eine Dokumentation zu Wien publiziert, weitere Bände zu Niederösterreich, Steiermark und das Burgenland sind in Vorbereitung. Ausgewählte Erinnerungszeichen zu Wien sind auf der Website memorials.at abfragbar.

Die erwähnte Dokumentation zu Wien kann bestellt werden unter:
doew.at

Literatur

Adam, Hubertus 1993 - Denkmäler und ihre Funktionsweise, in: Denkmal und Erinnerung. Spurensuche im 20. Jahrhundert. Anregungen für Schülerinnen- und Schülerprojekte (Hrsg. vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Abteilung für Politische Bildung), Wien

Akademie der Wissenschaften - Forschungsprogramm der Akademie der Wissenschaften in Wien

Assmann, Aleida 1996 - Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Hanno Loewy / Bernhard Moltmann (Hrsg.), Erlebnis-Gedächtnis-Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung. Frankfurt am Main/ New York

Assmann, Jan 1991 - Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Memotechnik, in: A. Assmann / D. Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/Main 1991, S. 337-355

Botz, Gerhard / Gerald Sprengnagel (Hrsg.) 1994 - Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt am Main-New York

Bundesgesetze 1948 - Bundesgesetze vom 7. Juli 1948 über "die Fürsorge für Kriegsgräber aus dem ersten und zweiten Weltkrieg" und über "die Fürsorge und den Schutz der Kriegsgräber und Kriegsdenkmäler aus dem zweiten Weltkrieg für Angehörige der Alliierten, Vereinten Nationen und für Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich und Opfer politischer Verfolgung", Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jg. 1948, 38. Stück Nr. 175 und 176, ausgegeben am 7. September 1948

Dachs, Herbert 1991 - Über die Opfer der Kriege und ihre Denkmäler. Bemerkungen zu einer bitteren Kontroverse, in: Herbert Dachs / Roland Floimair (Hrsg.), Salzburger Jahrbuch für Politik, S. 194-205

Daniel, Ute 2001 - Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main

DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes) (Hrsg.) 1998 - Gedenken und Mahnen in Wien 1934-1945. Gedenkstätten zu Widerstand und Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation. Wien

Gärtner, Reinhold / Sieglinde Rosenberger 1991 - Kriegerdenkmäler. Vergangenheit in der Gegenwart, Innsbruck

Giller, Joachim / Hubert Mader / Christian Seidl 1992 - Wo sind sie geblieben...- Kriegerdenkmäler und Gefallenenehrungen in Österreich (= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien 12), Wien

Hacker, Walter (Hrsg.) 1966 - Warnung an Österreich. Neonazismus: Die Vergangenheit bedroht die Zukunft (= Österreichprofile), Wien-Frankfurt am Main-Zürich

Lepsius, M. Rainer 1989 - Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des "Großdeutschen Reiches", in: Max Haller / Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny / Wolfgang Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt am Main-New York 1989, S. 247-264

Margalit, Avishai 2000 - Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen, Frankfurt am Main

Pelinka, Anton 1993 - Vom Umgang mit der Geschichte. Denkmäler und historische Erinnerung in der Zweiten Republik, in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Abteilung für politische Bildung (Hrsg.), Denkmal und Erinnerung. Spurensuche im 20. Jahrhundert. Anregungen für Schülerinnen- und Schülerprojekte, Wien

Seiler, Dietmar 1997 - Im Labyrinth der Geschichtspolitik. Die Erinnerung an die Shoa im öffentlichen österreichischen Gedächtnis, in: Zeitgeschichte, 24. Jg., September/Oktober 1997, Heft 9/10

Seiter, Josef 1995- Vergessen-und trotz alledem-erinnern. Vom Umgang mit Monumenten und Denkmälern in der Zweiten Republik, in: Sieder/ Steinert/ Talos (Hrsg.): Österreich 1945-1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien

Straubinger, Brigitte / Heidemarie Uhl / Susanne Uslu-Pauer 2003 - Erinnerungs- und Gedenkkultur als vergangenheitspolitischer Auftrag? Eine Dokumentation der zeitgeschichtlichen Erinnerungszeichen, errichtet im Gedenken an die Opfer des Faschismus und Nationalsozialismus im Burgenland, Wien (unveröffentlichtes Manuskript)

Uhl, Heidemarie 1994 - Erinnern und Vergessen. Denkmäler zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs in Graz und in der Steiermark, in: Stefan Riesenfellner / Heidemarie Uhl (Hrsg.) - Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur, Wien-Köln-Weimar 1994, S. 111-195

Dies. 1996 - Erinnerung als Versöhnung: zur Denkmalkultur und Geschichtspolitik in der Zweiten Republik, in: Zeitgeschichte (1996) Heft 5/6, S. 146-60

Dies. 1997 - The Politics of Memory: Austria`s Perception of the Second World War and the National Socialist Period, in: Günter Bischof / Anton Pelinka (Ed.) - Contemporary Austrian Studies, Volume 5, London 1997, S. 64-94

Dies. 1998 - Transformationen des österreichischen Gedächtnisses. Erinnerungspolitik und Denkmalkultur in der Zweiten Republik, in: Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Hrsg.) - Transit: Europäische Revue, Vom Neuschreiben der Geschichte. Erinnerungspolitik nach 1945 und 1989, Heft 15 / Herbst 1998, S. 100-119

Dies. 1999 - Transformationen des österreichischen Gedächtnisses. Geschichtspolitik und Denkmalkultur in der Zweiten Republik, in: Ulf Brunnbauer (Hrsg.), Eiszeit der Erinnerung. Vom Vergessen der eigenen Schuld, Wien 1999, S. 49-64

Dies. 2000 - Gedächtnisraum Graz. Zeitgeschichtliche Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum von 1945 bis zur Gegenwart, in: Sabine Hödl / Eleonore Lappin (Hrsg.), Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin-Wien 2000, S. 211-232

Dies. 2000a - Transformationen des österreichischen Gedächtnisses. Geschichtspolitik und Denkmalkultur in der Zweiten Republik, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2000 (Schwerpunkt: Geschichte denken: Philosophie, Theorie, Methode), S. 317-341;

Dies. 2001 - Das "erste Opfer". Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft. Nr.1 / 2001, S. 19 - 34

Young, James Edward 1997 - Formen des Erinnerns, Wien 1997 [(1993): The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning]

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