Diskursive Interventionen
Wir stehen vor dem Problem, eine antinationale Position zu definieren, und zwar heute, wo sich viele linke Positionen angesichts der neoliberalen Welle als durch und durch national erweisen. Was den Nationalstaat betrifft – um ganz kurz seine Befindlichkeit zu charakterisieren –, können wir Frank Zappas Aussage in Bezug auf den Jazz paraphrasieren: Er ist nicht tot, aber er riecht merkwürdig. Mit diesem Geruch scheinen sich aber viele zurechtzufinden. Sie glauben nach wie vor an eine Ewigkeit des – so offensichtlich – Vorübergehenden und plädieren für dessen Therapie. Das soll ihr Bier sein. Meine Aufgabe in diesem Text besteht darin, die möglichen organisatorischen und politischen Auswege aus dieser Situation zu skizzieren. Es ist kein leichtes Unterfangen, und ich werde die offenen Fragen sicher nicht zufriedenstellend beantworten. Ich glaube aber, dass so ein Versuch in unserer momentanen Situation lohnenswert ist.
Zunächst glaube ich, dass es sinnvoll wäre, von einer konkreten Situation, von einem sich gerade strukturierenden Ereignis auszugehen. Zur Zeit scheint mir die Idee eines Gegenprojekts zum Jubiläumsjahr 2005 am naheliegendsten. In dieser Idee verflechten sich wieder einmal mehrere Linien der außerparlamentarischen Opposition im österreichischen Staat. Und wie es mir scheint, steht sie noch weit vor einer Klarheit bezüglich der Ziele, bezüglich der zu bekämpfenden Ideen und Gestalten, und auch bezüglich der Mittel, dorthin zu gelangen. Die Vorgeschichte dieser Initiative ist folgende: Irgendwann hat jemand (eine oder mehrere) die Idee gehabt. Diese Idee wurde zunächst in den bestehenden Kontexten mit ein paar anderen diskutiert. Dann fand sich eine bestimmte Gruppe bereit, mehr Arbeit zu leisten, das heißt, sich um die Idee herum zu scharen und darüber nachzudenken was, wie, wo, wer, usw. Entstanden ist aus diesen Sitzungen ein Aufruf, der vor dem Sommer an einen erweiterten Kreis geschickt wurde, um das erste öffentliche Treffen für eine Plattform zustande zu bringen. Diese Plattform gibt es zur Zeit, dazu einige Arbeitsgruppen und auch einige andere am Werk tätigen Gruppen und Individuen, die entweder an der Mailingliste partizipieren oder durch Mundpropaganda davon erfahren haben und an ihren eigenen Manifestationen basteln. Soweit die Struktur. Jetzt das Ereignis. Zunächst einmal verspricht die Website der Plattform ein "Vorsorgepaket gegen ein Jahr Heimat-Feiern". Die Situation wird mit eigenen Mitteln zum Ereignis strukturiert, zu einem Geschehen, wo nicht bloß die Meinungen, sondern auch die Prinzipien eine Rolle zu spielen beginnen. An der Definition dessen, was das bedeutet, wird zur Zeit gearbeitet. Und es scheint mir keineswegs gewiss, dass diese Inszenierung eine antinationale sein wird.
Politik und Verwaltung
Was heißt heute Politik, und damit verbunden, was ist ein politisches Projekt? Meines Erachtens ist Politik, gestützt auf Jacques Rancieres Überlegungen, ein Versuch der Anteillosen in unseren Gesellschaften, aus ihrer Situation auszubrechen, ein Teil zu werden, ein Teil der als rationell und regierungsfähig betrachtet wird und nicht als emotional abgetan und insofern nur regiert werden kann. Die Regierung an sich hat nichts mit Politik zu tun, sie gehört der Ebene der Verwaltung an, zu dem was Joseph von Sonnenfels im Jahr 1770 "Polizey" genannt hat. Wenn aber die Regierung nicht zur Politik gehört, dann gehören auch diejenigen Strukturen nicht dazu, die sich an der Regierung, in welcher Form auch immer beteiligen. Damit soll klar sein, dass es sich bei den Parteien, Interessenvertretungen, Kammern usw. um keine politischen Projekte handelt. Ihres ist es, die Verwaltung, an der sie sich beteiligen, möglichst in ihrem Sinne zu lenken. Das ist kein Vorwurf, es ist nur eine Feststellung. Diese Organisationen können zur Politik aufgerufen werden, sie selbst üben aber Verwaltungstätigkeiten aus.
Was ist dann ein politisches Projekt seitens derjenigen, die Politik betreiben wollen? Zunächst einmal kann nur ein kollektives Projekt ein politisches Projekt sein. Es gibt keine individuelle Politik, genauso wenig, wie es eine individuelle Sprache gibt. Das heißt auch, dass es sich um eine organisatorische Tätigkeit und um eine Form der Organisation handeln muss. Die Besonderheit dieser Organisationsform ist, dass ihre Herkunft nicht die Verwaltung, die Regierung, die Polizey ist, sondern dass sie sich außerhalb dieser und vor allem gegenüber dieser entwickelt.
Das politische Projekt entsteht mit Alain Badiou aus einer Situation, aus dem, was in einer solchen Situation zu tun und zu sagen möglich ist. Das bedeutet, dass die politischen Urteile, Prozesse und Kämpfe existent sind. Sie fungieren aber nicht als Teil der Regierung und sind insofern nicht Bestandteile der bestehenden Normierungstechniken. Das Politische hat etwas mit Autonomie zu tun, vielleicht nicht beabsichtigt, aber tatsächlich stattfindend. Und es ist immer gebunden an einen Prozess, der so etwas wie den Hintergrund des Entscheidens und der geltenden Prinzipien bildet. Die Frage der Prinzipien ist die des Engagements der Gruppe im Namen von festgelegten Normen und Forderungen. Dieses Engagement ist wiederum charakterisiert durch Ausdauer und Beharrung auf dieser einen Einstellung. Solche politischen Subjektivierungen sind heutzutage aktive Fortsetzungen dessen, was einmal Klasse genannt wurde: deren Fortsetzung und gleichzeitig deren Überwindung.
Das Politische beginnt also dort, wo es Konflikte innerhalb bestimmter bestehender Prozesse gibt, innerhalb der bestehenden Effekte und Effizienzen, auch innerhalb dessen, was Staat genannt wird. Eine antinationale Position in diesem Kontext anzunehmen, heißt keineswegs, den Staat zu negieren, sich jenseits dieser Gebilde zu phantasieren und dort zu behaupten, an einer Politik gegen den Staat zu arbeiten. Diese Position bedeutet zweierlei: Erstens den Staat als ein reales Objekt (und nicht als Effekt) anzunehmen, bestimmte essenzielle Züge des Staates anzuerkennen, und zweitens den Staat als Regierungsweise und die daraus resultierenden Kämpfe außer Acht zu lassen.
Ein Aufgeben des Rahmens Staat bedeutet auch ein Aufgeben des Kampfplatzes Staat und damit das Aufgeben des Interesses an einer für die Alltagsregulierung der Individuen relevanten Kampfebene. Der Staat und sein real existierendes Gesicht – der Nationalstaat – muss wieder als Terrain des Kamp-fes anerkannt werden, als ein Raum, der Möglichkeiten für politische Interventionen anbietet. Diese Forderung impliziert nicht, dass die Vergesellschaftungsform des nationalen Kollektivs nicht bekämpft werden soll. Und sie impliziert bei weitem nicht die Beteiligung an den Mechanismen der so genannten "parlamentarischen Demokratie". Diese Art der Betätigung gehört wie gesagt als Teil der Verwaltung und Regierung nicht zur Politik; insofern auch nicht zum Gruppenengagement, sondern allein zum individuellen Bereich der einzelnen Meinungen. Das ist der Bereich, in dem die MeinungsforscherInnen ihre Erfolge feiern können.
Diese Forderung heißt, dass etwa innerhalb der antirassistischen Bewegung Forderungen an die Adresse des Staates gestellt werden und auch werden müssen. An wen soll sich sonst die Forderung nach Legalisierung richten, wenn nicht an jene Institutionen, die die Illegalisierung betreiben. "Forderung" heißt aber in einem politisch antirassistischen Kontext bei weitem nicht nur Appelle zu adressieren, sondern bedeutet auch Arbeit an der Schaffung bestimmter Bedingungen, in denen die staatlichen Institutionen anders agieren müssen als restriktiv. Der Staat und seine heutige Ausformung Nationalstaat befinden sich aus der Sicht des politischen Antirassismus in einem politischen Feld. Insofern wird hier ein Feld für politische Interventionen geboten. Nicht Rückzug, sondern Offensive kann zur Zeit im Hinblick auf die stattfindende Umfunktionalisierung des Effektes Staat die einzige Antwort sein. Dabei sind nicht die Ämter wichtig, nicht die Positionen innerhalb der Verwaltung, sondern der Prozess des Einwirkens.
Insofern ist auch etwa die an MehrheitsösterreicherInnen gerichtete Forderung mancher migrantischer, antirassistischer Gruppen, ihre Arbeitsplätze im so genannten Integrationsbereich den MigrantInnen zu überlassen, nur als sekundär politisch zu bezeichnen. Dies in dem Sinne, dass hier eine Delegitimierungsstrategie für Teile der Verwaltung ihre Anwendung findet. Die Erfüllung dieser Forderung wäre aber kein politischer, sondern nur ein Akt der Durchsetzung mancher verwaltungstechnischer Ansprüche gegenüber anderen.
Wo sollen wir landen?
Wie kann diese Analyse auf das heruntergebrochen werden, was sich als Plattform gegen das offizielle Jubiläumsjahr entwickelt? Zunächst einmal beteiligen sich bei der Sache keine politischen Parteien. Dadurch beruht sie auf der Selbstorganisation bestimmter handelnder AkteurInnen. Die Plattform versteht sich nur als Initialzündung. Sie steht somit zwar hinter dem Gedanken der Aktivierung gegen "ein Jahr Heimat-Feiern", aber sie übt keine Kontrollfunktion aus.
Die einzige Ebene, auf der die Plattform Einfluss ausüben kann und wird, ist diejenige des Diskurses. Denn auch wenn sich Vielfältiges ergibt, entwickelt sich innerhalb außerparlamentarischer politischer Bestrebungen nichts, was nicht ein Teil bestimmter Kontinuitäten wäre. Die Aktionen, die in solchen Zusammenhängen passieren, kontextualisieren sich in zweifacher Weise. Zunächst als Bestandteil bestimmter Entwicklungslinien, und zweitens aus der Behauptung, diese weiterzuführen (oder zu kritisieren oder abzulehnen...). Die Plattform ist ein selbstorganisierter, verwaltungsferner Zusammenschluss der Interessen von Individuen und Gruppen, und insofern auch als eine Art Allianz zu verstehen.
Wie ist das aber mit der Beziehung zum Staat? Da wird die Sache schon komplizierter. Zunächst einmal verwirft die Plattform die staatliche Ikonographie und staatliche Symbole nicht. Sie versucht diese zu modifizieren, aber "Österreich" heißt dabei eben "Österreich", und im ersten Titel der Plattform kam im Begriff "Gegen-Jubiläum" auch das Jubiläum vor. Die vorherrschende Überzeugung dabei ist die, dass es sich nicht um idente Inhalte handelt. Wer vertritt aber diese Überzeugung, wer ist das Wir der Plattform? Offensichtlich jemand, der sich schöpferisch betätigt und in der Öffentlichkeit wirksame Mittel entwirft. Außer der Gegnerschaft zur Regierung und einem gewissen Schaffensdrang gibt es zur Zeit nicht sehr viel mehr. Es gibt keinen politischen Kern, keine klar definierten Prinzipien und keine genaue Klärung, was der Zweck der Übung sein soll.
Es genügt nicht, den Staatsvertrag und seine nicht erfüllten Paragraphen zu verlautbaren, denn dieser Staatsvertrag hat aus antinationaler und antirassistischer Sicht nur eine einzige Funktion: die Schaffung einer Hülse für die österreichische Nation und damit einher gehende rechtliche und sonstige Ausschließungen. Eigentlich könnten wir aus antinationaler Sicht nur eine Abschaffung des Staatsvertrages fordern! Für das geplante Ereignis heißt das, dass es konsequenterweise nicht affirmativ die Gründung des Staates 1955, sondern allein die Befreiung vom Nationalsozialismus oder auch die Besatzung der nationalsozialistischen Gebiete, also nicht die staatliche Konstitution, sondern die militärisch strategische Ebene der Alliierten zu bejubeln gilt.
Aus diesem Blickwinkel gesehen können wir uns die Frage stellen, ob diese Ballung der Jubiläen nicht auch eine strategische Bedeutung hat, ob da nicht die grundsätzliche Entwertung dieses einen ersten und wichtigsten Jahres vorangetrieben wird. Der Staat, der gleichzeitig den eigenen Staatsvertrag und den Sieg über den Nationalsozialismus feiert, wird aus diskursiven Gründen dazu neigen, nur den Staatsvertrag und somit nur sich selbst zu feiern. Alles andere ist in einer solchermaßen strukturierten Öffentlichkeit sekundär, auch wenn das Gegenteil beteuert wird. Diesen Zusammenhang sollte die Plattform mitdenken, wenn es darum geht, bei den Entscheidungen bestimmte Inhalte zu forcieren. Sollte ein konsequent politisches Projekt durchgeführt werden, dann kann es nur um den Sieg gegen die NS-Schergen gehen und keineswegs um die zweite österreichische Republik. Nur in diesem Punkt verflüchtigt sich in diesem Projekt die Bedeutung des Nationalen. Und somit verbunden auch dessen performative Bestätigung. Nur in diesem Punkt können wir behaupten, einen konsequenten Kampf gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und für eine bessere Welt zu ehren. Alle anderen angeführten Jahreszahlen haben etwas zu tun mit Nationalismus, mit Eurozentrismus, mit Entmündigung, mit Ausschließungen und mit Beherrschung und Disziplinierung. Sie bieten also keinen Grund zu jubilieren, sondern nur einen, der zu ihrer Infragestellung führen kann. Will die Plattform also konsequent eine antinationale Position vertreten, dann muss und soll sie sich auf diesen neuralgischen Punkt der Befreiung oder eben Besiegung konzentrieren. In diesem Sinne haben, wenn das ein politisches, antirassistisches Projekt werden soll, Worte wie Österreich, Heimat, Staatsvertrag, EU usw. – innerhalb der Prinzipien, die hinter den beabsichtigten Ereignissen stehen – keinen Platz.
Ljubomir Bratic ist Philosoph, Sozialwissenschafter und freier Publizist, lebt in Wien.
Aus: Kulturrisse 0404, Dezember 2004.