"Kezeket fel!" Hände heben!
Johnny Moser
Johnny Moser kam 1925 als Sohn einer Jüdin und eines nichtjüdischen Vaters zur Welt. Seine Eltern besaßen in Parndorf im Burgenland eine Gemischtwarenhandlung. "Zu Jahresbeginn 1938 lebten noch etwa 3.800 Juden im Burgenland. Aber ab dem 13. März 1938 kamen keine Kunden mehr zu uns", berichtet er. Jonny Moser floh ohne Papiere nach Budapest und lebte dort im Untergrund. Er und seine Familie wurden 1941 in Budapest interniert und sollten mit dem letzten Transport nach Ausschwitz gebracht werden. Durch einen glücklichen Zufall kam es nicht dazu und er lernte 1944 den schwedischen Gesandten Raoul Wallenberg kennen, für den er fortan - mit schwedischem Schutzpass - als Schreibkraft und Bote arbeitete. Raoul Wallenberg wurde als Gesandter der Schwedischen Regierung nach Budapest geschickt, um sich der in Gefahr befindlichen Juden und Jüdinnen anzunehmen. Er konnte durch die Ausstellung und Verteilung schwedischer Schutzpässe tausenden Juden und Jüdinnen das Leben retten.
Sie waren im März 1938, beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht, zwölf Jahre alt. Ihre Eltern hatten eine Greißlerei und Sie lebten in Parndorf. Wie hat da Ihr Alltag ausgesehen? Wie war das im Jahr 1938, oder auch schon 1934?
Jonny Moser: Es war eine Gemischtwarenhandlung. Greißlerei bezieht sich nur auf Lebensmittel, aber eine Gemischtwarenhandlung ist ein Kleinwarenhaus. Heute gibt es ja diese Kleinwarenhäuser fast nicht mehr.
Die finanzielle Lage unserer Familie hat sich sogar gebessert zwischen `34 und `38. Wir haben damals das ganze Geschäft auf Diskont-Textilwaren umgestellt. Das heißt, wir haben sämtliche Schnittwaren, ob das nun Flanell, Leintuch usw. war, um einen Schilling pro Meter verkauft. Das hat es nicht gegeben in jener Zeit. Damals waren diese Dinge sehr teuer.
Inwiefern war schon vor 1938 im Burgenland Antisemitismus spürbar?
Jonny Moser: Er war damals schon ganz furchtbar zu spüren. Furchtbar. Leopold Kunschak, der erste Nationalratspräsident nach 1945, hat schon 1936 ein Gesetz, das so genannte Judensondergesetz einbringen wollen. Da ging es darum, die Juden zur eigenen Nation und als Minderheit in jeder Hinsicht zu erklären. Das heißt, sie hätten nur entsprechend ihrer Anzahl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bestimmte Berufe ausüben dürfen und so weiter.
Gedenkstätte für die Opfer des Österreichischen Freiheitskampfes 1938 - 1945, Salztorgasse 6, Wien.
Foto: Eva Egermann
Da gab es den Pater Bichlmair, ein katholischer Priester und der Chef des Pauluswerkes. Er hat die Aufgabe gehabt, die so genannte Judenmission durchzuführen. Und er stand noch 1936 auf dem Standpunkt: "Na sicherlich! Wir haben die Aufgabe als katholische Kirche, die Juden zum Katholizismus zu bekehren", "aber", und jetzt kommt es, "aber: die bekehrten Juden dürfen keine höheren Funktionen in der Öffentlichkeit ausüben, wegen ihres schlechten Charakters". Solche Dinge gab´s natürlich die ganze Zeit. Der Vizebürgermeister von Wien hat Weihnachten 1936 Flugblätter verteilen lassen, "Kauft Weihnachtgeschenke nicht in jüdischen Geschäften". Der Bürgermeister von Wien, Richard Schmitz, hat Auftrag gegeben, Gemeindewohnungen nicht an Juden zu vergeben. Also, so fein war die Situation nicht.
Und dieser Antisemitismus hat natürlich verhältnismäßig stark dem Nationalsozialismus zugearbeitet. Wie oft hat der liebe Schuschnigg von "deutsch" gesprochen, es ist nie das Wort Österreich gefallen. Sogar bei der Volkabstimmung am 12. März 1938, die ja nicht abgehalten wurde, hat es geheißen, "für ein freies, für ein christliches, für ein deutsches Österreich".
Was hat sich nach 1938 verändert?
Jonny Moser: Am 10. März ist bekannt gegeben worden, dass der Schuschnigg zurücktritt. Wir waren alle schockiert. Wir schlossen das Geschäft um halb acht Uhr am Abend. Und zwei Stunden später sind bereits die Nazi durch die Ortschaft gezogen, haben Umzüge gemacht und "Heil" geschrien, "Sieg heil, Sieg heil" und "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" und diese ganzen Schreiereien Am nächsten Tag, am Samstag, da ging das Geschäft sehr flau, da wurde bereits von Seiten der Nazis die Parole ausgegeben "kauft nicht bei Juden". Und das ging ungefähr bis Ende März. Ende März war das Geschäft bereits beschlagnahmt. Das heißt, ich durfte auch nicht mehr in die Schule gehen. Wir waren praktisch abgeschlossen von jedem gesellschaftlichen Leben und wurden natürlich auch von der Bevölkerung gemieden, wobei die Bevölkerung nicht nazistisch eingestellt war, sondern ängstlich war. Sie stand bereits unter einem bestimmten Druck von Seiten der Nazis.
Sie sind dann nach Budapest geflohen?
Jonny Moser: Noch lange nicht. Am 20. April wurden wir ausgehoben, in Parndorf, an die Grenze nach Mörbisch überstellt und nach Ungarn hinüber getrieben. Da befanden wir uns dann vier Tage im Niemandsland, wurden von den Ungarn zurückgeschickt und von den Deutschen wieder nach Ungarn geschickt. Das ist jede Nacht so gegangen, hin und her, bis man uns auf ungarischen Druck wieder zurückgenommen hat. Dann sind wir wieder nach Parndorf zurückgekehrt. Das ist diese Geschichte, die Franz Werfel literarisch verarbeitet hat, in der Novelle "Die Geschichte vom geschändeten Kreuz". Das heißt, wir waren die Letzten, die aus dem Burgenland illegal über die grüne Grenze getrieben worden sind.
Und dann sind wir nach Wien, und erst 1940 sind wir nach Budapest. Wir waren vorerst, etwas länger als ein halbes Jahr lang, im Untergrund. Untergrund, das heißt, wir haben damals schwarz gearbeitet, so wie es heute unzählige andere auch tun. Das Problem war ja nur die Unterbringung. Wir lebten in einem Souterrain-Zimmer/Kabinett von ungefähr fünfmal zweieinhalb Metern mit vier Personen. Jetzt können Sie sich vorstellen, welche Bewegungsmöglichkeit wir gehabt haben und außerdem fast kein Tageslicht.
Wir haben Heimarbeiten gemacht, wie zum Beispiel Hosenträger zusammengenäht. Wir haben Kunstblumen gemacht. Wir haben Kuverts oder Sackerln geklebt. Eine Zeit lang hab ich gearbeitet in einer Bäckerei und eine Zeit lang als Friseurlehrling, das war ja das Allerärgste. Da hab ich überhaupt nichts bezahlt bekommen, nur das Trinkgeld.
Wir wollten nach Amerika verreisen, nur wussten wir damals noch nicht, dass es bereits sehr schwierig war, nach Amerika zu fahren. Es war ja bereits Krieg. Und so mussten wir auftauchen aus dem Untergrund, uns bei der Polizei melden. Wir sind dann in ein Internierungslager gekommen, und da befanden wir uns bis zur deutschen Besetzung im Jahre `44.
Sie sollten mit dem letzten Transport nach Auschwitz transportiert werden. Das ist wegen eines glücklichen Umstandes nicht passiert. Was haben Sie da gedacht, wie es weiter geht? Hofften Sie darauf, dass Sie befreit werden? Welche Erwartungen waren das?
Jonny Moser: Ich habe überhaupt keine Erwartungen gehabt. Die Frage war nur, wie überlebe ich die nächsten Stunden, wie leb` ich die nächsten 24 Stunden. Das heißt, Pläne, was man machen wird, wie das ausschauen wird, das gab es nicht. Sogar als ich bereits bei Raoul Wallenberg gearbeitet habe, als ich durch die Widerstandsbewegung herausgekommen bin aus dem Lager und ohne Stern herumgegangen bin, also als schwedischer Staatsbürger, nicht einmal da hab ich mir Gedanken gemacht oder Pläne, was ich nach dem Krieg tue – weil ich nie gewusst hab, ob ich diesen Krieg überlebe. Ich war ja in Budapest während der Belagerung.
Sie haben dann in Budapest gemeinsam mit Raoul Wallenberg gearbeitet und als sein Angestellter über 5.300 schwedische Schutzpässe ausgestellt. Mit diesem Stück Papier wurde ziemlich vielen Leuten das Leben gerettet...
Jonny Moser: Na ja, ich hab die Schutzpässe nicht ausgestellt, ich hab sie nur zur Unterschrift ins Außenministerium gebracht.
Sie werden ja von den Todesmärschen auf österreichischer Seite gehört haben. Im November 1944 gab es Todesmärsche von Budapest an die österreichische Grenze. Es wurden also die Budapester Juden zur österreichischen Grenze getrieben. Hier sollten sie den Südostwall graben. Da sind wir, Raoul Wallenberg, der Chauffeur, der erste Sekretär der Gesandtschaft und ich, bei Nacht nach Hegyeshalom gefahren. Mit uns sind drei Lastautos gefahren mit Medikamenten und Lebensmitteln. Die Leute haben ja keine Verpflegung bekommen, sie haben kein Wasser bekommen, keine Medizin. Das war fürchterlich. Sie müssen sich vorstellen, November, Temperatur ungefähr zwischen 0 und -1 Grad, es nieselt, und die Leute marschieren zweihundertvierzig, zweihundertsechzig Kilometer zu Fuß. Wenn jemand zusammengebrochen ist, haben sie ihn erschlagen oder erschossen. Und wir kommen an die Grenze nach Hegyeshalom, und sehen, wie die ersten Transporte hereinkommen. Es hat ja fürchterlich ausgeschaut. Die Leute hatten eingefallene Augen, eingefallene Wangen, verschmutzt und ermüdet, ganz schwach. Und Wallenberg sieht das, und bevor sie an die Deutschen übergeben worden sind, springt er auf dem Bahnhof auf einen Pritschenwagen und ruft in die Menge hinein: "Wer ist schwedisch geschützt?" Natürlich haben die ungarischen Juden verhältnismäßig wenig deutsch verstanden. Dann sag` ich also auf ungarisch, "Kezeket fel!" also "Hände heben!". Zögerlich hebt der eine die Hand und hebt der andere die Hand. Darauf sagt der Wallenberg zu mir: "Gib mir die Tasche herauf!" Ich gebe ihm die Tasche hinauf und er nimmt eine Mappe heraus, aus der Mappe ein Blatt Papier und einen Bleistift. Er hat gesagt "Wie heißen sie?", und er hakt auf dem Papier ab. Er hakt ab und sagt: "Kommen Sie heraus.". Die Leute haben wir weggebracht zu den Lastautos und zurück nach Budapest gebracht. Letztlich hat sich folgendes herausgestellt: Der Wallenberg hat ein weißes Blatt Papier gehabt, da war kein Name drauf, gar nichts. Nach außen hin hat das ausgeschaut, als hätte er eine Liste gehabt, von Leuten, die einen Schutzpass haben. Diesen Leuten haben wir dort noch in Hegyeshalom provisorische Schutzpässe ausgestellt. Damit haben die Leute eine Chance gehabt, den Krieg zu überleben.
Raoul Wallenberg war ein Mensch, der, wenn er eine Aufgabe übernommen hat, diese Aufgabe hundertprozentig erfüllt hat. Er war wirklich durch und durch ein Mensch, man kann sagen eine Persönlichkeit, die man sehr selten findet. Und hat sich aufgeopfert für diese Menschen. Er hat auch sein Leben gelassen. Denn die Russen haben ihn dann verhaftet und er ist ja nie mehr freigekommen. Er ist nach Moskau gebracht worden und war dort ein so genannter Edelgefangener. Man dachte wahrscheinlich, er sei ein amerikanischer Agent. Warum? Weil die Gelder, die er in Budapest zur Rettung von Menschen verwendet hat, Gelder vom amerikanischen War Refugee Board waren. Das ist eine Kriegsflüchtlingsvereinigung. Wie sich jetzt herausgestellt hat, haben die Amerikaner da überhaupt nichts gemacht. Die Russen haben gesehen, er hat von Amerika Geld bekommen und das hat ihnen genügt. Es war ja 1945 bereits der Beginn des Kalten Krieges.
Und wie dachten Sie, dass es in Wien nach dem Krieg aussieht oder weitergeht? Wie sind die Leute, die aus Lagern zurückgekehrt sind, aufgenommen worden? Sie sind dann ja aus Parndorf weggezogen.
Jonny Moser: Na ja, man konnte sich vorstellen, wie es in Wien aussah, nachdem ich das gesehen habe, wie`s in Budapest ausgesehen hat. Nach der Befreiung waren wir wieder ohne Wohnung, wir lebten wieder in einem kleinen Kabinett fünfmal zweieinhalb Meter, vier Personen. Und ich arbeitete mit meinem Vater als selbstständiger Spediteur, mit so einem Handwagerl haben wir Möbeltransporte durchgeführt.
Jeder Fremde, der kam, wurde scheel angeschaut. Dass man mit der Bevölkerung in Parndorf nicht sprechen konnte, ist auch verständlich. Sie dürfen ja nicht vergessen: die Bevölkerung in Parndorf und wir, wir haben verschiedene Geschichten gehabt. Das heißt, die Geschehnisse in Parndorf, die Erlebnisse, die diese Leute gehabt haben während des Krieges hier, und die Erlebnisse, die wir gehabt haben im Lager und dann während der Belagerung in Budapest, waren völlig andere. Das heißt, wir konnten uns solange nicht verständigen, bis die zweite und dritte Generation angefangen hat, die Geschichte aufzuarbeiten und Verständnis zu zeigen, auch für den anderen.
Wir sind überhaupt nicht mehr nach Parndorf zurückgegangen, denn in unserem Haus waren drei Parteien einquartiert. In dem anderen Haus waren zwei Parteien einquartiert. Na, was sollten wir machen, wir konnten ja die Leute nicht rausschmeißen. Und außerdem war das russische Zone.
1945 war einer der prägnanten Aussprüche der WiderstandskämpferInnen: "Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!" In dem Sinne spielt ja Ihre Arbeit beim DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands) eine wesentliche Rolle.
Jonny Moser: Ich bin einer der Mitbegründer des Dokumentationsarchivs und seit 1964 im Vorstand. Unsere erste Aufgabe im Dokumentationsarchiv war, den Begriff der österreichischen Nation zu prägen. Die Widerstandskämpfer haben gekämpft für Österreich, für diese österreichische Kultur, für diese österreichische Nation, das war das allererste. Die zweite Aufgabe war es, Österreichs Anteil an der Befreiung aufzuarbeiten. So wie es in der Moskauer Deklaration heißt und dann auch im Staatsvertrag erwähnt wird, dass Österreich Anteil hatte an seiner Befreiung. Diese Dokumente hatten wir bereits gesammelt – Dokumente, die belegen, dass Österreich, und Österreicher, sich für diese zweite Republik eingesetzt haben, für die Befreiung Österreichs vom Nazijoch sozusagen.
Das Jahr 2005 ist ja zum "Gedenkjahr" ausgerufen worden und wie sie schon sagten war die Widerstandsbewegung ein Grund dafür, dass Österreich 1955 den Staatsvertrag bekommen hat. Heuer wird also 60 Jahre Befreiung, 50 Jahre Staatsvertrag gefeiert. Innerhalb dieses Jubiläumsjahres geht es offensichtlich auch darum, verschiedene Sichtweisen auf die Geschichte durchzusetzen und damit aktuelle Politik zu legitimieren. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Widerstandsbewegung im Geschichtsbild Österreichs?
Jonny Moser: In diesem Jubiläumsjahr 2005 ist meiner Meinung nach viel zu wenig erzählt worden, was Österreich während der Jahre 1938 bis '45 beziehungsweise zwischen 1934 und '38 mitgemacht hat, wie sehr die faschistische und dann die nationalsozialistische Diktatur Schuld auf sich geladen hat und den Österreichern Schaden zugefügt hat.
Sehen Sie, man muss Widerstandsbewegung differenziert ansehen. Es gab einerseits eine konspirative und andererseits eine aktive Widerstandsbewegung. Der größte Widerstand war konspirativ. Es gab natürlich auch verhältnismäßig viele aktive Widerständler, die tatsächlich gekämpft haben. Es gab auch viele Widerstandskämpfer, die mit dem Regime nicht einverstanden waren, das auch geäußert haben, die ihren Kopf hingehalten haben, auch den Kopf verloren haben, die hingerichtet worden sind. Und es gab viele Österreicher, die in ausländischen Armeen gekämpft haben, für die Befreiung dieses Landes.
Das fand in meinen Augen 2005 viel zuwenig Erwähnung. Vergessen Sie eines nicht: Es gab allein in der englischen Armee rund dreitausend Österreicher. Es gab in der amerikanischen Armee rund achttausend Österreicher. In der russischen Armee können sie ungefähr drei- bis vierhundert Österreicher finden, die gekämpft haben für die Befreiung dieses Landes. Und diese Leute sind viel zuwenig erwähnt worden, obwohl sie ein wesentlicher Teil des Widerstandes waren und auch dazugehören zu den Widerstandskämpfern. Sind diejenigen, die sich geweigert haben, in der deutschen Armee zu kämpfen, die desertiert sind. Die so genannten Fahnenflüchtigen. Wissen Sie, wie viele davon ihr Leben lassen mussten? Wissen Sie, wie viele da eingesperrt waren? Und heute muss man sich anhören, dass diese Fahnenflüchtigen Mörder an ihren Kameraden waren, wie es der Herr Bundesrat Kampl das gesagt hat. Die, die in der deutschen Armee gekämpft haben, kämpften ja nicht für Österreich, sie haben für den Hitler gekämpft! Hat Österreich jemals den Krieg erklärt? Aber sie mussten als Österreicher in der Deutschen Wehrmacht kämpfen. Und wenn jemand von ihnen sagt "wir haben die Heimat verteidigt", meine ich: gar nichts haben sie verteidigt! Ihre Heimat ist ja nicht angegriffen worden.
Sie haben viele gesellschaftliche Umbrüche miterlebt. Derzeit erleben wir, wie der Neoliberalismus unser Denken und Handeln bestimmt und als natürlich gewachsene, alternativlose Gesellschaftsform erscheint, zumindest für meine Generation. "There is no Alternative." Wie Gesellschaft anders funktionieren könnte, kann man sich kaum mehr vorstellen. Was kann man da aus der Geschichte lernen?
Jonny Moser: Na, das versteh ich schon. Sie wachsen ja mit, mit dem was hier geschieht. Aber in den letzten Jahren hat sich hier in Österreich natürlich schon viel verändert. Seit wir die blauschwarze Koalitionsregierung haben, ist der Neoliberalismus forciert worden. Dieser Neoliberalismus bedingt natürlich die Einteilung der Bevölkerung in Klassen: die Klasse der Besitzenden ist die Gewinner-Klasse dieses Regimes, dieses blauschwarzen Regimes. Die Klasse der arbeitenden Menschen ist die Verlierergruppe. Wir haben in Österreich noch nie so viele Arbeitslose gehabt wie heuer.
Die Frage ist die: Ist Widerstand berechtigt oder nicht? Berechtigt ist Widerstand immer, in meinen Augen, gegen eine Diktatur. Nun, eine Diktatur haben wir ja nicht. Wir haben ja noch immer ein demokratisches System in diesem Land. Das Wirtschaftssystem, das wir haben, ist eben ein System, dass die Besitzlosen benachteiligt, zugunsten der Besitzenden. Und dagegen Widerstand zu üben, ist schwer.
Sie leben nach wie vor in Wien. Wie ist das, wenn Sie heute durch die Stadt gehen? Gibt es bestimmte Orte und Situationen in Ihrem Alltag, die Sie an die Zeit damals erinnern?
Jonny Moser: Na sicherlich. Zum Beispiel, wenn Sie zum Morzinplatz gehen. Ihnen sagt der Morzinplatz nix, mir sagt der Morzinplatz sehr viel. Dort stand das Gestapo-Gebäude. Wir haben das Denkmal dort. (Anm: Gedenkstätte des österreichischen Freiheitskampfes) Natürlich steht jetzt ein anderes Haus dort, aber unwillkürlich erinnert man sich, wie es damals dort ausgeschaut hat. Das war ein Haus im Ringstraßenstil. Es waren zwei Wachposten, zwei Polizisten draußen und Leute sind hie und da vor dem Eingang angestellt gewesen. Entweder haben sie den Insassen, die dort eingesperrt waren, Wäschepakete gebracht oder sie wollten irgendetwas anderes nachfragen. Das ist so ein Fall, wo ich mich erinnere.
Oder wenn ich am Parlament vorbeigehe, freut es mich immer, die Pallas Athene dort zu sehen. Der Aufgang zum Parlament ist nun frei. 1938, 1939 und 1940 sind immer zwei SS-Posten draußen gestanden. Warum? Der Gauleiter von Österreich hat dort im Parlament seinen Sitz gehabt. Das sind so kleine Erinnerungen. Zum Beispiel war fast jedes Autogeschäft in Wien früher einmal ein Kaffeehaus. Sind alle weg. Wissen Sie, wie viele Kaffeehäuser Wien einmal hatte? Die Kaffeehäuser kommen wieder und die Wiener gehen auch wieder in Kaffeehäuser.
Fahren Sie noch manchmal ins Burgenland und nach Parndorf, die Ortschaft, wo Sie aufgewachsen sind?
Jonny Moser: Heuer war ich in Neudorf bei einer Gedenkfeier für die Opfer des zweiten Weltkrieges. Das war die erste Gemeinde, die sowohl der Kriegsopfer als auch derjenigen, die während der Befreiungskämpfe gefallen sind sowie derjenigen, die im Holocaust umgekommen sind, gemeinsam gedachte. Das ist bis jetzt die erste und einzige Gemeinde im Burgenland, die das gemacht hat. Die Ehrung auf den Kriegerdenkmälern des ersten Weltkrieges und des zweiten Weltkrieges ist ja ein großer Unterschied. Die im ersten Weltkrieg gefallen sind, die sind für Österreich gefallen, die im zweiten Weltkrieg gefallen sind, sind ja nicht für Österreich gefallen. Die sind für Deutschland gefallen.
Interview: Eva Egermann (im Rahmen von "Nach der Freiheit...")