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Home » Projekte » Nach der Freiheit... » Geduld ist eine revolutionäre Eigenschaft

Geduld ist eine revolutionäre Eigenschaft

Irma Schwager (geb. 1920) schloss sich im Lager Gurs der Kommunistischen Partei und schließlich der französischen Résistance an. Sie stammt aus einer jüdischen Familie und war 18 Jahre alt, als 1938 deutsche Truppen in Wien einmarschierten. Die junge Frau emigrierte zunächst nach Belgien, später in den Süden Frankreichs. Von dort gelangte sie nach Paris, wo sie sich der Résistance anschloss. Nach der Befreiung war sie vor allem in der Frauen- und Friedensbewegung aktiv, engagierte sich in der Kommunistischen Partei und war langjährige Vorsitzende des Bundes Demokratischer Frauen. Folgendes Interview entstand am 28. September 2005.

Sie sind 1920 in Wien geboren, stammen aus einer jüdischen Familie, die heine Greißlerei besaß. Wie sah Ihr Alltag zur Zeit des Austrofaschismus aus. Wie würden Sie die Stimmung damals beschreiben?

lrma Schwager: Ich fange damit an, wie ich den 12. Februar erlebt habe: 1934 war ich in der 4. Hauptschulklasse, und plötzlich hat uns die Lehrerin gesagt: "Kinder, geht’s nach Hause, es gibt eine Stromstörung." Und wir waren natürlich froh, so wie alle Kinder, wenn’s nach Haus gehen dürfen. Es war aber keine Stromstörung, sondern das war schon der Februaraufstand.


Irma Schwager

Und das war dann auch schon der Beginn jener Zeit, in der sich alles verändert hat. Davor beispielsweise sind wir im Geschichtsunterricht aufgefordert worden, Zeitungen zu lesen und darüber zu sprechen. Danach ist alles anders geworden. Die kritische Aufarbeitung hat sich aufgehört. Eine neue Bundeshymne wurde eingeführt und alle Parteien und Organisationen verboten. Die Regierung Dollfuß hat ein diktatorisches Regime errichtet und die Demokratie zerstört. Deshalb kann ich auch gar nicht verstehen, dass man den Dollfuß in der ÖVP noch immer als Widerstandkämpfer gegen den Nationalsozialismus feiert.

Sie waren beim Einmarsch der deutschen Truppen in Wien 18 Jahre alt. Was hat sich nach ‘38 in Österreich verändert? Inwiefern war Ihr Alltag geprägt von Repression und Antisemitismus?

lrma Schwager: Armee, Gestapo und die Nazis sind plötzlich Teil des täglichen Lebens geworden. Ich kann mich an die Nacht des Einmarschs erinnern. Da ist schon die SA marschiert und hat gegrölt: "Deutschland erwache, Juda verrecke" und "Ein Reich, ein Volk, ein Führer" - es herrschte Pogromstimmung. Während die einen auf der Ringstraße gejubelt haben, herrschte bei anderen Angst, besonders in den jüdischen Familien. Die Leute sind ja sofort geholt worden. Eine schreckliche Stimmung war das also damals.

Sie wollten dann nach England emigrieren, sind aber in Belgien hängen geblieben. Und dann ging`s weiter nach Südfrankreich?


Gedenkstätte für die Opfer des Österreichischen Freiheitskampfes 1938 - 1945, Salztorgasse 6, Wien.
Foto: Eva Egermann

lrma Schwager: Ich hab in Belgien als Hausgehilfin gearbeitet. Es war gar nicht so einfach, eine Einreisegenehmigung zu bekommen, damals haben verschiedene Länder ihre Grenzen geschlossen. Man hat ein "permit" haben müssen und das war alles sehr schwierig. Ich hab ein "permit" für England als Hausgehilfin gehabt, bin aber dann in Belgien geblieben, weil mein Freund in Belgien war. Am 10. Mai 1940, als die Deutschen in Belgien einmarschiert sind, bin ich mit dem ganzen Flüchtlingsstrom nach Südfrankreich und dort bin ich wie alle Österreicher als feindliche Ausländerin interniert worden - und so war ich dann im Lager Gurs.

Und dort haben Sie zum ersten Mal Kontakt zum organisierten Widerstand der KommunistInnen gehabt?

lrma Schwager: Ja, dort hab ich Kontakt zu den Kommunisten bekommen. Ich war ja noch sehr jung. Man muss sich das vorstellen: Im Lager waren entsetzliche hygienische Verhältnisse, nichts zu essen - eine schlimme Situation. Aber von diesen Menschen hab ich Solidarität und Freundschaft erfahren und das hat mich Anschluss finden lassen an diese Gruppe der Kommunisten, und mit ihrer Hilfe sind wir dann aus dem Lager fort. Zu der Zeit hat es einen besetzten Teil Frankreichs gegeben und einen unbesetzten Teil, und dieses Lager Gurs lag im unbesetzten Teil des Landes. Wir sind dann mit Hilfe eines französischen Geistlichen aus dem Lager fort und über die Demarkationslinie in den besetzten Teil Frankreichs - weil wir ja unbedingt mitwirken wollten, um diesen Krieg zu beenden.

Wie hat danach Ihr Engagement im Widerstand, der Résistance ausgesehen?

lrma Schwager: Durch die Kommunisten haben wir auch Anschluss bekommen an die französische Widerstandsbewegung, die ja eine sehr breite Bewegung war. Wir haben als Österreicher - weil eben deutsch unsere Sprache war - eine Spezialarbeit innerhalb der französischen Widerstandsbewegung bekommen und zwar den Kontakt zu deutschen Soldaten aufzubauen und unter ihnen, in der deutschen Besatzungszone, Überzeugungsarbeit zu leisten. Schriftlich über Zeitungen und so weiter und mündlich durch Gespräche. Den Kontakt zu den Soldaten herzustellen, das war eben die Aufgabe der Mädchen.

Eine heikle und gefährliche Aufgabe ...

lrma Schwager: Ja, das war nicht so einfach. Wir haben alle falsche Papiere gehabt, die uns als Elsässer, sozusagen Franzosen, die deutsch können, auswiesen.

Den Kontakt zu den Soldaten herzustellen war deswegen die Aufgabe der Mädchen, weil junge Mädchen eben leichter Kontakt zu den Soldaten bekommen, nicht? Das wirkt irgendwie unverdächtig. Und dann sind wir immer zu zweit gegangen, dorthin wo viele Menschen, viele Soldaten waren - zum Beispiel in Warenhäusern oder auf dem Flohmarkt oder in der Metro. Da haben wir uns entweder in Gespräche eingemischt oder beim Einkaufen und beim Übersetzen geholfen. Und wir sind immer zu zweit gegangen, damit es sicherer ist, und haben uns dann aber nach kurzer Zeit immer auf Sichtweite voneinander getrennt, weil wir genau gewusst haben, der eine würde vor dem anderen nie etwas Kritisches sagen. Das hat man auch erst lernen müssen, das Zuhören, weil da sind einem ja Sachen gesagt worden, die nicht so leicht verdaulich waren und man durfte sich nicht provozieren lassen. Der erste Soldat, mit dem ich gesprochen hab, der ist mir davongelaufen, weil der hat so entsetzliche Sachen gesagt, angefangen von "die Saujuden" und die "schrecklichen schlampigen Franzosen" und "der Führer und sein neues Deutschland" - also diese ganzen Nazi-Klischees. Und ich war so empört, dass ich auf alles geantwortet hab. Später hat mir dann meine Kollegin gesagt: "Bist du wahnsinnig, der hätte dich doch hochgehen lassen können!" Und so hat man erst lernen müssen, sich nicht provozieren zu lassen, sondern das Gespräch langsam anzugehen. Da haben wir zum Beispiel einmal mit zwei Panzersoldaten gesprochen. Zwei so jungen Burschen, die haben uns dann Bilder gezeigt, Fotos von aufgehängten Partisanen. Damit haben sie angegeben und wollten zeigen, was für Kerle sie sind. Da muss man schon schlucken, um noch freundlich zu bleiben. Also wenn wir so fanatische Typen getroffen haben, da haben wir geschaut, dass wir die ganz rasch wieder loswerden.

Am Anfang, als die Deutschen noch an allen Fronten auf dem Vormarsch waren, als sie ein Land nach dem anderen besetzt haben, da hat diese Armee so einen Mythos der Unbesiegbarkeit umgeben und da hat’s viele gegeben, die haben wirklich an das geglaubt, was man ihnen gesagt hat, dass es ein "neues Europa" geben werde. Die waren ja so indoktriniert.

Also am Anfang war`s schwer. Erst nach Stalingrad, als die rote Armee auf dem Vormarsch war, ist es leichter geworden. Da hatten auch viele Soldaten schon die verschiedensten negativen Erlebnisse gehabt, und da ist es uns dann schon gelungen, Nachdenklichkeit zu erzeugen. Das hat natürlich Kraft gegeben.

Man war ja frustriert, wenn man bei so einem Nazi seine Zeit vergeudet hat und auf der anderen Seite hat’s einem Kraft gegeben, wenn man gespürt hat, man hat was zum klingen gebracht in einem Soldaten, was Menschliches. Das ist uns schon oft gelungen.

Wenn man dann gespürt hat, das ist ein Mensch, mit dem man reden kann, dann hat man zuerst einmal ein Flugblatt hergezeigt und beobachtet, wie er reagiert. Schließlich ist es auch bei manchen gelungen, dass sie Flugblätter in die Kaserne mitgenommen haben.

Das war eine mühevolle Überzeugungsarbeit, aber je weiter der Krieg fortgeschritten war und die Niederlagen für die Deutsche Wehrmacht gekommen sind, ist es dann leichter geworden, Nachdenklichkeit zu erzeugen.

Ich hab im Lauf der Zeit mit acht Frauen zusammengearbeitet. Vier von ihnen sind verhaftet worden. Eine, die Trude Blaukopf, ist hingerichtet worden, ihr Grab ist in Paris. Und drei, die Lisa Gavritsch, die Gerti Schindel und die Wilma Steindling haben Auschwitz und Ravensbrück überlebt.

Sie haben teilweise schon darüber gesprochen, was Sie konkret motiviert hat, Widerstand zu leisten. Welche Gesellschaft wollten Sie aber dem Faschismus und später dem Nationalsozialismus entgegenstellen?

lrma Schwager: Es war ja ein Mörderregime! Also, das war die Motivation schon vor dem Krieg und erst recht im Krieg. Ich hatte das Glück, diesen Kontakt zu Kommunisten zu bekommen, und über sie schließlich zur Widerstandsbewegung. Manche Juden haben sich versteckt, manche sind geflohen und viele sind deportiert worden. Ich hatte dagegen die Möglichkeit und schließlich das Bewusstsein, gegen die Nazis anzukämpfen. Ich bin mir gar nicht wie ein Opfer vorgekommen, ich hab ja gegen diese Regime gekämpft, und das war eine ganz wichtige Sache. lch bin von meiner Familie die einzige gewesen, die aktiv gegen dieses Regime war. Meine Eltern sind deportiert worden. Meine Brüder sind auch im Holocaust umgekommen. Also, der Widerstand hat einem auch Kraft gegeben. Sich verstecken und nur Angst zu haben, das schwächt! Das ist schlimm. Der Widerstand war zwar auch gefährlich, aber gleichzeitig war es wichtig, auch was zu tun. Das Motiv war einfach: Da war sichtbar, wer ist der Gegner. Heute ist das ja oft nicht so sichtbar, wer der Gegner ist.

Sie sind im Frühsommer ‘45 mit einer Gruppe von Kommunisten und Kommunistinnen nach einer abenteuerlichen Reise durch das zerbombte Deutschland wieder nach Österreich bzw. Wien zurückgekehrt.

lrma Schwager: Wie der Krieg aus war, bin ich mit nach Belgien gegangen. Ich hatte damals schon eine kleine Tochter und wir haben in Belgien versucht, die Emigranten und auch die politischen Flüchtlinge aus Österreich zu sammeln. Wir haben dann Öffentlichkeitsarbeit entwickelt, um zu sagen, dass die Österreicher keine Deutschen sind und dass wir wieder ein unabhängiges Österreich wollen. Österreich hat ja damals noch zu Deutschland gehört, als "Ostmark". Es war wichtig dass man die öffentliche Meinung gewinnt. Wir haben kulturelle Veranstaltungen gemacht und waren ziemlich erfolgreich.

Bei der ersten Gelegenheit hat uns dann die englische Armee Richtung Österreich mitgenommen. Die haben uns aber in Köln abgesetzt. Wir waren zehn oder zwölf Leute und sind mit allen möglichen und unmöglichen Fahrzeugen, die uns mitgenommen haben, durch das zerstörte Deutschland gefahren. Das hat mehrere Wochen gedauert. Es hat in Deutschland Camps für displaced persons gegeben. Das war ja wie eine Völkerwanderung, da sind die Kriegsgefangenen und die politischen Flüchtlinge und die KZler nach Hause geströmt. Es war ein großes Durcheinander.

Wie haben Sie sich in dieser Zeit vorgestellt, wie es in Wien wohl ausschauen wird - und wie es weitergeht nach der Befreiung? Was waren Ihre Erwartungen und Hoffnungen für die Zeit nach dem Kriegsende?

lrma Schwager: Obwohl ja damals die Situation in Wien sehr schwierig war, waren wir alle so voll Optimismus. Man muss sich das vorstellen: Der Faschismus war geschlagen! Wer hätte im Jahr `38 geglaubt, dass man in der Lage ist, diese stärkste Armee Europas zu schlagen. Mit der Gestapo, mit diesem Terrorregime - das hätte damals niemand geglaubt. Das war also eine große Sache, dass der Faschismus geschlagen worden ist. Da war eine Aufbruchsstimmung: "Jetzt wird was Neues kommen, eine Demokratie, wo alle mitreden und vor allem die Frauen." Die Nazizeit war ja ein Höhepunkt der Erniedrigung der Frau.

In Wien herrschte damals Mangel an allem, es hat nichts zu essen gegeben, die Brücken waren kaputt, aber trotzdem war eine Aufbruchsstimmung. Dieser Ruf "Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!", das war damals wirklich eine Überzeugung bei vielen Menschen!

Welche sozialen Kämpfe und Konflikte haben Sie im Anschluss an diese Aufbruchstimmung, in der zweiten Republik miterlebt?

lrma Schwager: Also ich war hauptsächlich in der Friedens- und Frauenbewegung aktiv.

Im August 1945 wurden die Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima geworfen. Es war ein großes Anliegen der Friedensbewegung, dass diese schrecklichen Massenvernichtungswaffen sowie Atomwaffenversuche verboten würden. Da hat es eine große Unterschriftensammlung gegeben.

Es war ein Bedürfnis: So etwas darf es nicht wieder geben. Man muss sich das vorstellen: In ein paar Sekunden sind tausende Menschen getötet worden. Das ist auch ein Kriegsverbrechen. Kampf um Abrüstung und Frieden, das war uns damals eine wichtige Sache.

Dann hat der Kalte Krieg begonnen und mit ihm die Polarisierung. Kommunisten waren damals verfemt, sind verteufelt worden.

Unser zweiter Schwerpunkt war die Frage des Antifaschismus: Nach dem Krieg hat es ja zum Beispiel weiterhin SS-Treffen gegeben, diese so genannten Kameradschaftstreffen. Dort ist der Krieg, der Charakter des Krieges und die Kameradschaft, die man im Krieg gepflegt hat, verherrlicht worden. Dass das ein verbrecherischer Krieg war, das wurde in diesem Rahmen nicht erwähnt.

Gegen diesen Neonazismus, der weiterhin sichtbar war, sind wir eingetreten, für den Antifaschismus und gegen das Vergessen. Und dafür, dass man der jungen Generation die Wahrheit über diese Zeit sagen sollte. Ich war ja im Bund Demokratischer Frauen zuerst Sekretärin und später bin ich dann die Vorsitzende geworden. Wir sind zu den Schulen gegangen und haben mit den Direktoren gesprochen, dass man wenigstens am Jahrestag der Besetzung Österreichs die Wahrheit über diese Zeit sagen sollte. Das war eine wichtige Sache. Auf Initiative der Grete Schütte-Lihotzky, die Präsidentin unseres Bundes Demokratischer Frauen war, haben wir schließlich in der Wiener Urania ein antifaschistisches Frauenkomitee gegründet. Und von da an ist dann jeden Monat in der Urania ein Antikriegsfilm oder ein antirassistischer Film gezeigt worden, zu denen Schulen eingeladen wurden. Das haben wir über dreißig Jahre gemacht.

Sie haben den Ausspruch der WiderstandskämpferInnen "Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!" schon erwähnt. Hat sich für Sie diese Hoffnung erfüllt?

lrma Schwager: Na ja, die Tatsache, dass heute mehr über Faschismus und Krieg gesprochen wird, ist schon eine positive Sache, und das ist auch, möchte ich sagen, mit ein Ergebnis unserer Bemühungen. Als meine Kinder noch in die Schule gegangen sind, hat man über diese Zeit überhaupt nicht geredet. Der Geschichtsunterricht hat beim ersten Weltkrieg aufgehört. Aber heute wird in den Schulen davon gesprochen, man findet in den Geschichtsbüchern etwas zu dieser Zeit, die Kinder fahren nach Mauthausen, in der Öffentlichkeit wird darüber gesprochen, es gibt Filme - das ist ein positive Entwicklung.

Faschismus war ja kein Naturereignis. Wenn man die Ursachen kennt, dann kann man sie bekämpfen. Nichtsdestoweniger gibt es immer wieder neofaschistische Gruppen und es gibt auch den alltäglichen Rassismus, es gibt noch Antisemitismus - und dagegen muss man auftreten. Ich meine, wenn man sich anhört, was der Strache da alles von sich gegeben hat bei dieser Kundgebung am Viktor Adler-Markt, wenn man sich die Plakate der FPÖ im Wiener Wahlkampf anschaut, da ist so eine Fremdenfeindlichkeit drinnen, da wird so unterschwellig Hass propagiert. Das ist eine Katastrophe! Und das Schlimme ist, dass man mit so was noch Stimmen gewinnen kann.

Also die Aufgabe, gegen den Faschismus anzukämpfen, hört für uns nicht auf, man kann sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen.

Wenn Sie heute, 60 Jahre danach, durch die Stadt gehen oder an Orte Ihrer Jugend kommen, gibt’s da Situationen, wo Erinnerungen hochkommen? An die Zeit damals, an die Repression und auch an den Widerstand?

lrma Schwager: Ich muss sagen, ich hab diese Erinnerungen präsent, auch wenn ich nicht an den Orten bin. Eigentlich täglich, wenn mir etwa im Wahlkampf auf der Straße so ein Hass begegnet. Oder ich lese Bücher oder ich sehe Filme, ich hab die Erinnerung, die kriege ich nicht weg… die ist immer da. Nicht nur die Erinnerung an meine eigene Familie, sondern überhaupt. Ich kann mir nicht vorstellen, wenn man all das erlebt hat, dass man dieser Entwicklung gegenüber gleichgültig sein kann. Das kann man sich heute nicht vorstellen, wie diese Zeit war.

Sie haben einmal gesagt, Sie haben acht Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts miterlebt. In dieser Zeit hat es einschneidende Veränderungen, enorme politische und soziale Umbrüche gegeben. Für viele Menschen aus meiner Generation erscheint der neoliberale Kapitalismus als natürliche Entwicklung und nahezu alternativlos. Es ist kaum noch möglich, sich eine andere Gesellschaftsform vorzustellen. Wie aber könnte man sich Widerstand heute noch vorstellen und wie dazu von der Geschichte bzw. Ihrer Geschichte lernen?

lrma Schwager: Das eine ist jedenfalls: Man darf sich nicht abfinden mit den Verhältnissen. Das hab ich gelernt. Man darf nicht aufgeben, wenn es auch noch so aussichtslos erscheint, und man darf sich nicht abfinden mit den gegebenen Zuständen, weil, wenn man selber nichts dagegen tut, dann wird sich auch nichts ändern.

Der Neoliberalismus, das ist so ein zusammenfassendes Wort, aber was bedeutet das? In der Praxis? In der Praxis bedeutet das, dass die ganze Sozialpolitik, das, was man sich wirklich erkämpft hat in Jahrzehnten, untergraben wird. Außerdem gibt es immer mehr prekäre Abeitsverhältnisse, in denen vor allem Frauen für geringfügige Löhne arbeiten müssen, von denen sie aber nicht leben können und sich stattdessen mehrere derartige Jobs besorgen müssen.

Ich hab heute in der Früh zufällig einen Artikel im "Profil" gelesen, da gibt’s eine Serie "Der Kapitalismus heute", und da wird gesagt, dass es wichtig ist, dass künftig mehr gearbeitet wird. Man soll also weniger verdienen und mehr arbeiten, so werden die ganzen sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte untergraben. Und wenn man sich anschaut, was ist das Resultat? Ein großer Artikel gestern im "Standard" belegte etwa: "Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer." Das ist das Ergebnis dieser neoliberalen Politik. Und dagegen muss man, wo immer man kann, ankämpfen. Ich bin ja leider schon 85 Jahre, aber ich werde, wo immer ich kann dagegen auftreten, weil das ist ja ein Unsinn. Die wollen heute wieder einen 10-Stunden-Tag einführen und eine 60-Stunden- Woche und dabei haben wir so lange für den 8-Stunden-Tag gekämpft.

Es ist kein Zufall, dass die Armen ärmer werden und die Reichen reicher, das hängt ja mit der Politik zusammen, die da gemacht wird.

Heuer feiert Österreich ein Jubiläumsjahr: 60 Jahre Befreiung und 50 Jahre Staatsvertrag, den Österreich ja auch aufgrund des Widerstands gegen die Naziherrschaft, also auch wegen des kommunistischen Widerstands bekommen hat.

Welche Rolle hat aber die Widerstandsbewegung im Selbstverständnis Österreichs - auch im Hinblick auf diesen Opfermythos?

lrma Schwager: Der kommunistische Widerstand wird ja möglichst verschwiegen. Die erste große Sitzung heuer im Nationalrat, wo sozusagen feierlich dieses Gedenkjahr eingeläutet wurde, da sind die Kommunisten nicht einmal eingeladen worden, obwohl nachgewiesen ist, dass die Kommunisten die stärkste Kraft im Widerstand waren. Da gibt’s diese Studie von Wolfgang Bauer, der zeigt, dass 80 Prozent der Anklagen vor Gericht wegen Widerstandsaktivitäten Kommunisten betrafen. Und es gibt ja auch die Zahl von 2000 Kommunisten, die ermordet wurden oder hingerichtet oder in den Lagern zugrunde gegangen sind. Das ist ein historischer Fakt, den man anerkennen muss, auch wenn man politisch völlig anderer Meinung ist, weil sonst ist das Geschichtsfälschung.

Die Widerstandsbewegung der Kommunisten gab es vom Beginn der Besetzung Österreichs an. Es haben schon Sozialisten, Kommunisten, Christen als Personen am Widerstand teilgenommen, aber als Partei organisiert hat diesen Widerstand nur die kleine Kommunistische Partei. Und das ist eigentlich etwas ganz Wichtiges, nur das sagt niemand, das weiß auch kaum jemand hierzulande. Die Medien vermitteln halt das, was die Leute, die hinter ihnen stehen, hören wollen.

Sie haben die sozialen Kämpfe und Bewegungen in Österreich über lange Zeit mitverfolgt. Würden Sie sagen, dass sich der unmittelbare Zugang zum "politisch sein", zum "nicht-einverstanden sein" über die Generationen immer wieder verändert?

lrma Schwager: Es hat so viele Aufs und Abs gegeben im letzten Jahrhundert, aber was ich wirklich selbst erlebt habe ist, dass jedes Stückchen Fortschritt gegen den Widerstand der Konservativen und gegen die Leute, die die Macht haben, erkämpft werden muss. Vom Wahlrecht angefangen über die sozialen Gesetze, in der zweiten Republik der Paragraph 144, das Eherecht, der Karenzurlaub - jedes Stückchen Freiheit musste erkämpft werden, gegen den Widerstand der Herrschenden.

Zum Beispiel, was das Eherecht betrifft. Der Mann war ja das Haupt der Familie und das hat bedeutet, dass er der Frau hätte verbieten können, laut Gesetz, berufstätig zu sein. Eine Mutter hat kein Recht gehabt, einen Pass zu unterschreiben für ihr Kind oder einen Lehrvertrag. Das war eine Entmündigung der Frau. Letzten Endes ist es gegen alle Widerstände in den siebziger Jahren gelungen, diese Reformen durchzuführen.

Oder der Abtreibungsparagraph 144: Generationen haben dagegen gekämpft. Bis 1975 hat es gedauert, die Fristenlösung durchzusetzen.

Also, das was ich erlebt habe, war, dass man Fortschritte nur durch Widerstand erkämpfen kann und dass man auch heute Widerstand leisten muss, weil die Angriffe auf die erkämpften Rechte wieder zunehmen. Wenn man keinen Widerstand leistet, gibt man den anderen die Bahn frei. Das ist eine ganz wichtige Sache, besonders für Frauen, weil wir zum Beispiel immer noch die Verlierer dieser ganzen prekären Arbeitsverhältnisse sind.

Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man gar nicht anders, als sich dafür einzusetzen, dass sich da was ändert. Was nützen mir sechs Frauen in der Regierung, wenn die alle keine Politik für die Frauen machen. Die sollen dann auch wirklich Frauenpolitik machen. Oder zum Beispiel dieses verschärfte Ausländergesetz... Na ja, man muss viel Geduld haben, das ist es wohl - und das hat ja auch der Engels gesagt: Geduld ist eine revolutionäre Eigenschaft.

Interview: Eva Egermann (im Rahmen von "Nach der Freiheit...")

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60 Jahre Befreiung, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft - im so genannten Jubiläumsjahr 2005 erlebt Österreich einen neuerlichen Schub an Geschichtsverzerrung und Chauvinismus, an Opfermythen und diversen rot-weiß-roten Identitätskonstruktionen.
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